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Jeder Psychoanalytiker ist gefordert, Freuds Genie in sich selbst zu verwirklichen: Sigmund Freud im Jahr 1931.

Foto: AP/Sigmund Freud Museum, handout
Eine einfache, vibrierende Frage: Was bewundere ich am meisten an Freud? Das ist die Frage, die mich, als ich diesen Text schrieb, begleitet hat. Ich habe mich unaufhörlich gefragt, was von ihm in mir lebt, bei der Arbeit mit den Analysanden, in der theoretischen Reflexion, mit der ich mein Zuhören ausrichte, und im Willen, der mich dazu antreibt, die Psychoanalyse in jene Wirklichkeit umzusetzen, die sie bekommt, wenn Sie diese Zeilen lesen.

Das, was mich bei Freud am meisten frappiert, das, was mich ständig auf mich selbst zurückwirft, das, was die Aktualität seines Werks ausmacht, ist nicht die Theorie, obwohl ich mich ihrer ständig bediene, und auch nicht seine Methode, obwohl ich sie ständig anwende. Nein. Das, was mich am meisten verzaubert, wenn ich Freud lese, ist seine Kraft, seine Verrücktheit, sein genialer Wille, im Inneren des Anderen das zu erfassen, was dessen Verhalten zugrunde liegt, den Ursprung dessen zu finden, was ein menschliches Wesen antreibt.

Zweifellos ist Freud vor allem ein Wille, eine Begierde zu wissen, aber sein Genie liegt anderswo. Genie ist etwas anderes als lediglich ein Wille oder eine Begierde. Das Genie Freuds liegt darin, dass er eines begriffen hat: Um jene geheimen Antriebskräfte zu erfassen, die jenen Anderen, der leidet und der zu uns spricht, in Bewegung halten, um das tun zu können, muss man diese Antriebskräfte zuallererst in sich selbst entdecken.

Man muss, ohne dass man den Kontakt mit dem verliert, der zu uns spricht, den Weg nachvollziehen, der von unserem eigenen Verhalten zu den Wurzeln dieses Verhaltens führt. Das Genie besteht nicht darin, ein Rätsel enthüllen zu wollen, sondern darin, das Ich in den Dienst dieses Wollens zu stellen, darin, aus dem Ich ein Werkzeug zu machen, das es ermöglicht, an die Wurzeln des Leidens des Patienten heranzukommen. Ich sollte hier auch gar nicht vom "Ich" sprechen, sondern vom instrumentellen Unbewussten des Psychoanalytikers.

Ich bin in der Tat der Ansicht, dass der Psychoanalytiker nicht mit seinem Ich arbeitet, sondern mit seinem Unbewussten, und auch nicht mit seinem "persönlichen", sondern mit seinem professionellen, einem sehr speziellen Unbewussten, das ich als "instrumentell" bezeichne. Der Wille zum Wissen, der bei Freud so hartnäckig ist, verbunden mit dieser außerordentlichen Demut, sein Unbewusstes einzusetzen, um in den anderen hineinzuschlüpfen, das ist es, was ich an Freud so sehr bewundere.

Wie jedes andere Genie lässt sich auch das Genie Freuds nicht erklären und nicht übertragen, doch es ist in ganz konkreter Form bei allen Psychoanalytikern, die sich der verbalen und nichtverbalen Sprache ihrer Patienten öffnen, vorhanden. Jeder Psychoanalytiker ist gefordert, Freuds Genie in sich selbst zu verwirklichen und zu vervollkommnen, jedes Mal, wenn er sein instrumentelles Unbewusstes einsetzt, um dem Unbewussten seines Analysanden zuzuhören. (Juan-David Nasio/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 7.7. 2006)