Ist Sigmund Freud sein eigener Modellpatient, dessen revolutionäre Ideen sich seiner Kokain- abhängigkeit verdanken?

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Gegen den Mythos: Israëls' "Der Wiener Quacksalber", Bussert & Stadeler '06.

Wie viel verdankt die Psychoanalyse der Kokainsucht ihres Erfinders? Ein Auszug aus dem Buch "Der Wiener Quacksalber" des kritischen Freud-Experten Han Israëls.


Manche Wissenschaftler glauben, dass Verrückte tatsächlich krank sind, diese Krankheit sich jedoch zufällig nicht in ihrem Herzen oder ihrem Hals, sondern im Gehirn befindet. Andere Wissenschaftler glauben, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen körperlichen Erkrankungen und Geisteskrankheiten gibt; sie sind davon überzeugt, dass Geisteskrankheiten keine körperlichen Ursachen haben, sondern von psychischen und sozialen Faktoren herrühren.

Vor ungefähr dreißig Jahren war die letztgenannte Gruppe von Wissenschaftlern auf der Gewinnerseite. So waren damals die meisten Psychiatrie-Lehrstühle in Amerika von Psychoanalytikern besetzt. Modernen Psychoanalytikern zufolge werden Menschen nervenkrank oder verrückt, weil sie die Dinge, die sie eigentlich gern tun würden - vor allem auf sexuellem Gebiet - nicht tun können oder dürfen.

Gelegentlich kommt es zu heftigem Streit zwischen den beiden Wissenschaftlergruppen. Ein Beispiel hierfür ist das Buch "The Freudian Fallacy: Freud and Cocaine" von E. M. Thornton aus dem Jahre 1983 über den Schöpfer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Thornton geht davon aus, dass eigentlich alle Geisteskrankheiten Hirnerkrankungen sind, und glaubt, dass Freud mit seinen psychologischen Erklärungen nervöser Störungen falsch lag. Sie behauptet, dass es sich dabei in den meisten Fällen nicht um psychische Erkrankungen, sondern um Epilepsie gehandelt habe - also um eine Erkrankung des Gehirns.

Thornton geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie findet die Ideen Freuds so unsinnig, das sie deren Urheber selbst für übergeschnappt hält: Sie glaubt, dass er ein Paradebeispiel für eine geistig gestörte Persönlichkeit sei. Eine solche Diagnose erscheint auf den ersten Blick sonderbar, da man Freud doch allgemein eine sehr ausgeglichene Persönlichkeit zuspricht. Aber das trifft nicht auf alle Abschnitte in seinem Leben zu: In der Periode, in der er seine psychoanalytischen Theorien entwickelte, war er alles andere als ausgeglichen. Er hatte hin und wieder fürchterliche Kopfschmerzen und war häufig sehr depressiv. Manchmal war er begeistert auf eine Weise, die an Wahnsinn grenzte: Dann schrieb er nächtelang durch und glaubte, das Welträtsel gelöst zu haben; ein paar Tage später hatte er wiederum das Gefühl, noch immer nichts wirklich verstanden zu haben.

In diesen Jahren wütete in Europa eine Art Kokainepidemie. Das Kokain hatte gerade Einzug in die Medizin gehalten, die suchterzeugende Wirkung war jedoch noch nicht allgemein bekannt. Viele Ärzte - darunter, als einer der ersten, Sigmund Freud - experimentierten in diesen Jahren mit dem neuen Mittel, und viele von ihnen wurden süchtig. Wie äußerte sich diese Sucht? Thornton versucht, aus Tagebüchern und Memoiren kokainsüchtiger Zeitgenossen Freuds eine Reihe von Symptomen zusammenzutragen: Migräne, Depressionen, Schreibwut im Zustand höchster Begeisterung, wobei sich das Geschriebene im Nachhinein als Unsinn erweist, Verfolgungswahn, Sendungsdrang, d. h. das Gefühl, der Menschheit eine Botschaft verkünden zu müssen, sowie Effekte auf sexuellem Gebiet, die sich etwa darin äußern, dass es zunächst zu einer Steigerung des sexuellen Verlangens kommt, das im Laufe der Zeit jedoch nahezu erlischt.

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Nun, mit dieser Liste in der Hand, offenbart sich Thorntons historischer Patient Dr. Freud fast als ein Modellpatient! Plötzlich, um die Zeit herum, als er vermutlich damit begann, sich das Kokain über die Nase zu verabreichen, tauchte er mit revolutionären Theorien über allerlei wilde sexuelle Leidenschaften auf, die den Menschen peinigen würden. Freud lieferte dafür keinerlei Beweismaterial. Man könnte also meinen: Er wurde plötzlich selbst von allerlei starken sexuellen Leidenschaften gepeinigt. Doch zehn Jahre später - er war damals Mitte vierzig - war es vorbei: Um diese Zeit herum schrieb er einem guten Freund, dass Sex für ihn persönlich eigentlich keine Rolle mehr spiele.

Kurzum, Freud selbst ist laut Thornton ein schlagender Beweis für die Theorie, nach der geistige Störungen durch körperliche Faktoren verursacht werden. Hat Thornton Recht? Sie tut in gewisser Weise dasselbe wie Freud, der nahezu unser gesamtes Verhalten aus unseren sexuellen Wünschen erklärt. Auch Thornton erklärt fast das gesamte Verhalten ihrer Hauptfigur aus einer einzigen Sache: Kokain. Doch ist hinter all dem, was Freud getan hat, nicht mehr zu suchen als eine Kokainsucht? Es hat in der Vergangenheit viele Süchtige gegeben, doch nicht alle haben ein so ingeniöses theoretisches System entwickelt und so viele interessante Bücher geschrieben wie Freud.

Thorntons Buch erschien im Jahre 1983. Persönliche Informationen über Freud aus der Periode, um die es hier vor allem geht - die Jahre vor 1900 -, entnahm sie der Korrespondenz, die Freud zu der Zeit mit einem sehr guten Freund von ihm geführt hat, Dr. Wilhelm Fließ aus Berlin. Die Korrespondenz war in Buchform erschienen, allerdings zensiert. Es fand sich darin zwar etwas über Kokain, doch nicht sehr viel. Thornton vermutete, dass in all den Passagen, die nicht veröffentlicht worden waren, noch sehr viel mehr über Kokain stehen würde. Inzwischen gibt es eine vollständige Ausgabe der Freud-Fließ-Korrespondenz, und diese bestätigt die Vermutung Thorntons.

In vielen der nachträglich veröffentlichten Passagen aus den Briefen geht es um die Arbeit von Fließ, eines Arztes, der sonderbare Theorien über die Nase entwickelt hatte. Er glaubte, dass sich viele Leiden durch die Behandlung der Nase heilen ließen: in leichteren Fällen durch Bestreichen der Naseninnenseite mit Kokain. In der Korrespondenz erkundigen sich die beiden Freunde Freud und Fließ fortwährend nach dem Zustand ihrer Nasen und lassen sich regelmäßig an ihnen behandeln. Diese Leiden bilden den Anlass, die Nasen immer wieder mit Kokain zu behandeln.

Dennoch macht das Buch von Thornton gelegentlich einen etwas willkürlichen Eindruck. Es ist fast keine Verhaltensweise denkbar, die es nicht auch als Symptom einer bestimmten körperlichen Krankheit gibt. Und so ist es einfach, sämtliche Verhaltensweisen einer Person dadurch zu erklären, dass man ihr diese Krankheiten zuschreibt. Interessant werden solche Interpretationen jedoch erst, wenn sich sehr viele Verhaltensweisen einer Person aus ein und demselben körperlichen Faktor erklären lassen. Thornton ist dies mit Freud sehr gut und überzeugend gelungen: Vieles im Verhalten Freuds ähnelt in der Tat dem Verhalten eines Kokainabhängigen.

Der Autor Han Israëls studierte Soziologie in Amsterdam und war einige Jahre Assistent von Norbert Elias. Nach einer Dozentur zur Geschichte der Psychologie an der Universität van Amsterdam ist er seit 2002 Universitätsdozent der Rechtspsychologie an der Universität in Maastricht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7.7. 2006)