Wien - Jeder Öffi-Benutzer kennt das seltsame Gefühl der Betretenheit, wenn die U-Bahn-Lektüre just durch einen musizierenden Passagier, der vielleicht noch ein Kind mit traurigen Augen und einem Becher in der Hand dabei hat, unterbrochen wird. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um Ausbeutung handelt.
Belästigt
"Viele Fahrgäste fühlen sich durch organisiertes Betteln in der U-Bahn belästigt. Wir bitten Sie, dieser Entwicklung nicht durch aktive Unterstützung Vorschub zu leisten, sondern besser, durch Spenden an anerkannte Hilfsorganisationen zu helfen. Sie tragen dadurch zur Durchsetzung des Verbots von Betteln und Hausieren bei den Wiener Linien bei."So tönt es seit einigen Wochen aus den Lautsprechern der U-Bahnen. Grund dafür seien zahlreiche Anfragen von Kunden, die sich über Bettlerbanden beschwert hätten, erklärt Brigitte Gindl von den Wiener Linien.
Allein im Mai gab es 68 telefonische Beschwerden zum Thema. "In einem fahrenden Zug gibt es keine Ausweichmöglichkeit - dazu kommt, dass die Musikanten oft auch noch extrem falsch spielen", meint Gindl und weist darauf hin, dass Betteln in den Öffis grundsätzlich verboten ist.
Gratis-Öffi-Benutzung
Für Heidi Cammerlander, Sozialsprecherin der Wiener Grünen, ist die "Anti-Bettelkampagne"der Wiener Linien ein Beispiel für die Verdrängung von sozialen Missständen. "Es kann nicht sein, dass Armut durch Verbote und Vertreibung versteckt wird."Anstatt durch derartige Kampagnen Klischees zu verstärken, sollte die Politik wirkungsvolle Konzepte entwickeln, fordert Cammerlander abermals Gratis-Öffi-Benutzung für Menschen in "verfestigter Armut". Die Stadt verweist hingegen auf vergünstigte Tarife für Sozialhilfeempfänger.
Normalbild einer Stadt
Martin Schenk von der Armutskonferenz hält die Kampagne für "zu einfach": "Es ist nicht automatisch jeder, der eine Ziehharmonika herauszieht, organisiert. Man kann vorher nie wissen, ob nicht jemand auf eigene Faust sein Einkommen aufbessert."Anderer Meinung ist die Polizei, die seit Anfang Juni Schwerpunktaktionen in den U-Bahnen durchführt: "99 Prozent der Bettler sind organisiert", sagt Karl Mahrer, stellvertretender Landespolizeikommandant. Die Anzahl der Bettler sei aber seither "massiv zurückgegangen."Bettelnde Menschen werde es immer geben, ist Schenk jedoch überzeugt: "Es gehört zunehmend zum Normalbild einer Stadt."