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Rosen am Zaun des KZ Auschwitz. Durch die national unterschiedliche Wahrnehmung des Holocausts fällt eine gemeinsame Erinnerung und damit die Konstruktion eines gemeinsamen europäischen Geschichtsbildes schwer. Eine neue "Geschichtspolitik" könnte hier helfen.

Foto: AP/Petr David Josek
Der renommierte deutsche Politik-und Sozialwissenschafter Claus Leggewie beschäftigt sich mit einer europäischen "Geschichtspolitik". Und hofft, dass sich Europa durch diese als supranationales Gemeinwesen konstituiert, erklärte er in einem Vortrag am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

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"Alles muss raus, alles muss auf den Tisch. Es muss erinnert, durchgearbeitet und in der Folge überwunden werden." Fast könnte man meinen, dass einem ein Psychoanalytiker gegenübersitzt. Doch Claus Leggewie hat mit Psychoanalyse nichts zu tun; zumindest auf den ersten Blick nicht.

Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität an der Universität Gießen und mithin in ganz anderen (Forschungs-)Bereichen zu Hause. Konkret ist es auch der Politikwissenschafter, der ihn Obiges sagen lässt. Und zwar am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). An dieser vom Wissenschaftsministerium geförderten Institution ist Leggewie gerade "Körber Visiting Fellow", wie das heißt, und hält Seminare über "europäische Geschichtspolitik".

Was sich dann doch wieder psychoanalytisch anhört - wenn man sich unter Geschichtspolitik ein kollektives Aufarbeiten der eigenen Geschichte vorstellt. Womit man nicht ganz falsch liegt. Denn tatsächlich geht es Leggewie, wie er im Gespräch mit dem STANDARD erklärt, um diese gesellschaftlich tief verankerte "Erinnerungskultur", die die Bundesrepublik Deutschland als Reaktion auf die Verbrechen des Nazi-Regimes entwickelt hat.

Und die mittlerweile, freilich unter stets anderen Vorzeichen und Bedingungen, fast in ganz Europa "schick" geworden ist. Schließlich wird heute in so gut wie allen Staaten fleißig "erinnert" - an die Gräuel, die braune oder rote Terrorregime angerichtet haben, ebenso wie an die Keime der Demokratie, die vielleicht gleichzeitig auszumachen waren.

Für Leggewie ist deshalb diese Kultur des Erinnerns, bei der er lieber von "Geschichtspolitik" spricht, eine große Chance: Genau dadurch, durch diese Arbeit an einem europäischen Gedächtnis könnte die EU einmal mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft oder dergleichen sein. Denn es sind ja in der Regel die geteilten Erinnerungen, die eventuell in einem "Gründungsmythos" gipfeln, die ein Gemeinwesen zum Gemeinwesen machen. Weshalb Europa ein solches "Erinnerungspaket" sehr gut brauchen könnte.

Allerdings hat die Sache einen Haken: nämlich den, dass sich die europäischen Staaten "zwar an die gleiche Geschichte erinnern, das jedoch auf ganz unterschiedliche Weise tun". Österreich, Deutschland, Spanien, Schweden oder Russland haben zwar alle an der gleichen Historie teil, sprechen aber meist über ganz andere Dinge, wenn sie über selbige reden.

"Negativer Gründungsmythos"

Was die Sache einer europäischen Geschichtspolitik schwierig macht. Und eines gleich einmal von vornherein verunmöglicht - dass die deutsche Geschichtspolitik zum Vorbild für ganz Europa wird. Dabei wäre das ganz praktisch und angenehm: "Der Holocaust als negativer Gründungsmythos, das würde sich auch für Europa anbieten."

Denn so wie es nach dem Krieg für die Bundesrepublik üblich wurde, ihr Selbstverständnis aus einem "Die Gräuel des Nationalsozialismus dürfen sich nicht mehr wiederholen" zu gewinnen, könnte das auch das politische Europa tun. Schließlich war ja die Gründung der heutigen EU in der Tat eine Folge des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus, dessen Wiederkehr man so zu verhindern hoffte.

Doch die "D-Norm", wie Leggewie das deutsche Vorgehen im Anschluss an Timothy Gordon Ash nennt, hat in Europa keine Chance. Einfach, weil für andere Staaten der Holocaust nicht so wichtig und mithin auch nicht konstitutiv im Sinne von identitätsbildend ist. "Nicht nur für die Briten oder Portugiesen ist er das nicht, speziell auch die Mittel- und Osteuropäer legen auf andere Aspekte der Geschichte Wert."

Konkret der Kommunismus und dessen Auswüchse sind dort das Thema, was es in einer europäischen Geschichtspolitik, deren Anliegen eine gesamteuropäische Erinnerung ist, zu berücksichtigen gilt. Und zwar auf eine Weise, die keine Sekunde lang den Judenmord auch nur irgendwie relativiert.

Eine Möglichkeit dazu bietet eine Kategorie, die in jüngster Vergangenheit im Feld der Erinnerungskultur immer mehr an Bedeutung gewonnen hat - nämlich der Begriff der Vertreibung. Denn woran sich nach Darstellung Leggewies notgedrungen alle Länder wie Bevölkerungsgruppen Europas erinnern müssen, sind ethnische Säuberungen, die sie entweder selbst verschuldet oder umgekehrt erlitten haben.

Das gilt für Juden wie für Polen wie für Tschechen oder auch Deutsche, die ja nach dem Krieg in Osteuropa Verfolgungen und Vertreibungen ausgesetzt waren. Und sogar Belgien oder Portugal müssen sich hierin wiederfinden, da deren koloniale Aktivitäten freilich auch nicht ohne Säuberungswellen abliefen.

Allerdings funktioniert diese Kategorie nur dann, wenn es wirklich eine differenzierte Diskussion um die erfolgten Vertreibungen gibt; bloß "ein Jahrhundert der Deportationen" auszurufen - "das geht", wie Leggewie explizit betont, "nicht". Genauer gesagt müssen alle erfolgten Vertreibungen in ihrer ganzen Differenziertheit dargestellt werden, was ja auch passiert, wenn zum Beispiel in Berlin über ein "Zentrum für Vertreibung" nachgedacht wird oder die Idee eines europäischen Netzwerks zu diesem Thema im Raum steht.

In weiterer Folge könnte es dazu kommen, dass jedes Land die Vertreibungsdiskussion startet, in der es sich "findet" - und so doch alle gemeinsam und doch anders an einer gesamteuropäischen Erinnerung schreiben. Die aber, und das ist jetzt der entscheidende Punkt, keine homogene Erinnerung, kein Gründungsmythos oder kein stabiles Bild ist.

Was Leggewie vorschwebt, ist ein Prozess des Erinnerns, der de facto nicht abschließbar ist, weil das in ihm behandelte Thema letztlich strittig bleibt: Es gibt keinen Konsens, der sich finden ließe, sondern nur eine fortlaufende Auseinandersetzung mit diesem gemeinsamen Säuberungs-Erbe - das dadurch aber doch eine gemeinsame Erinnerung konstituiert.

Spätestens hier wird Leggewie nun doch zum Psychoanalytiker, der sich jedoch nicht um ein fragmentiertes Ich, sondern um einen fragmentierten Kontinent kümmert. Auf dass er dort dadurch, dass er sich mit seiner Fragmentiertheit auseinanderzusetzen beginnt, an Stabilität gewinnt. (Christian Eigner/DER STANDARD, Printausgabe, 5. Juli 2006)