In den nächsten Jahren keine Besserung in Sicht: GDF-Präsident Alexej Simonov über Medien in Russland

Foto: derStandard / Steiner
Meinungsfreiheit in Russland zu verteidigen, sei unmöglich, meint Alexej Simonov von der Medienorganisation Glasnost Defence Foundation (GDF): Schließlich sei nicht zu retten, was überhaupt nicht existiere.

DER STANDARD: Zyniker sagen, die Meinungsfreiheit in Russland ist insofern gewährleistet, als die Leute den Medien nicht glauben.

Simonov: Das verstehe ich. Aber spielen wir nicht mit Worten. Meinungsfreiheit hat es bei uns bis zum heutigen Tag nie gegeben. Aus Verlegenheit haben wir den Fonds vor 15 Jahren "zum Schutz der Glasnost (Transparenz)" genannt, zum Glück nicht "Fonds zur Verteidigung der Meinungsfreiheit". Denn man kann nicht verteidigen, was man nicht hat. Wir haben Glasnost, ja, die Möglichkeit, aus der Menge zu rufen, dass der Kaiser nackt ist – in Weißrussland ist das praktisch schon nicht mehr möglich.

DER STANDARD: Sich mit Weißrussland zu vergleichen deutet auf Frustration.

Simonov: Nun, bei uns kann man manchmal gegen den Fluss schwimmen, manchmal kritisch zu den Ereignissen stehen. Aber diese Glasnost hat sich längst schon vom Festland zur Insel gewandelt. Und diese wird vom Orkan der Gleichgültigkeit attackiert.

DER STANDARD: Würden Sie wirklich die 90er-Jahre, wo oligarchische Strukturen die Zeitungen kontrollierten, vorziehen?

Simonov: Eindeutig ja. Der Dreck, der damals aufeinander ausgeschüttet wurde, wird ja jetzt auch ausgeschüttet. Heute ist das Business auf Linie gebracht, und die Medien sind ununterscheidbar geworden.

DER STANDARD: Zur Sowjetunion las man einst Bücher, weil das Fernsehen unerträglich war. Ist die Zeit zu lesen wieder angebrochen?

Simonov: Ich schaue jetzt natürlich, weil Fußball ist. Mit großem Stolz verweisen die Kanäle auf die "Liveübertra gung". Solche gibt es sonst bei uns nicht mehr. Die Bevölkerung kommt nicht vor; es gibt keine normalen Frauen, keine normalen Kinder; man macht Glamoursendung für fünf Prozent Reiche. Das TV-Bild ist heute eines unserer größten Übel. Das TV beleckt sich selbst. Pluralismus gibt es nur gegenüber historischen Ereignissen. Kritik an der Gegenwart ist tabu.

DER STANDARD: Vor ein paar Jahren sagten Sie Putin, dass er selbst das Hauptopfer der Zensur ist. Was meinte er dazu?

Simonov: Er sagte, möglicherweise. Mehr sagte er nicht. Er will das auch nicht wissen, denn der Wunsch zu wissen, was im Land real vor sich geht, geht in dem Maße verloren, in dem diese speichelleckerische Macht und die speichelleckerische Beziehung zum Kreml gestärkt wird. Alle inklusive Putin wollen hören, dass sie groß, weise und fähig sind, das Erblühen des Staates zu fördern. Die Zensur ist de facto ein Filter in beide Richtungen.

DER STANDARD: Wo liegt der Hund begraben?

Simonov: Die Macht ist von der Hauptmasse der Gesellschaft getrennt, weil sie deren Problem auch sehr wenig rührt. Die Massenmedien detto. Am meisten alarmiert mich, dass man allmählich ein künstliches Bild einer Gesellschaft geschaffen hat, die man für die reale hält. In den nächsten Jahren wird sich auf dem Mediensektor nichts zum Besseren ändern. Das gefährlichstes ist, dass im Journalismus heute die korporative Solidarität völlig weg ist – auf einen Schutz der eigenen Redaktion kann sich niemand verlassen.

DER STANDARD: Was ist mit den Medien außerhalb des TV?

Simonov: Nicht schlecht entwickelt ist das Radio. Aber 90 Prozent sind Musikradios. Der Informationsaspekt ist minimal. Zeitungen spielen bei uns eine sehr unbedeutende Rolle, denn die Auflagen sind gering, das Land aber groß. (Eduard Steiner/Printausgabe, DER STANDARD, 5.7.2006)