Moskau - Ein weltweites demokratiepolitisches Unikum geht zu Ende. 13 Jahre nach seiner Einführung verschwindet in Russland das Protestwählerkästchen "Gegen alle"von den Wahlzetteln. Die großteils auf Kremlkurs liegende Staatsduma hat die Eliminierung der Wahlmöglichkeit "G. a."jüngst in zweiter Lesung beschlossen. Dem Kreml ist der anonyme Protestkandidat offenbar zu populär geworden.

Dagegen zu sein war in der russischen Geschichte alles andere als leicht. Die Pseudowahlen in der Sowjetunion hatten eine Alternative zur Staatsmacht gleich gar nicht vorgesehen. Als sich das Blatt mit dem Ende der Sowjetunion wendete, galt es, auch einen Modus zur Bedienung der Protestwähler einzurichten: Ende der 80er-Jahre musste der Wunschkandidat auf dem Wahlzettel durch Streichung der Gegenkandidaten kenntlich gemacht werden. Wer gegen alle war, weil eine Alternative nur vorgetäuscht oder der Wunschkandidat nicht zugelassen wurde, strich alle. Die Totalablehnung konnte bis zu 50 Prozent erreichen.

Seit der Wahlreform 1993 wird der Wunschkandidat durch direktes Ankreuzen gewählt. Um die Wahlbeteiligung statistisch zu heben, hat der damalige Präsident Boris Jelzin die Möglichkeit der Totalablehnung mit dem Kästchen "Gegen alle"auf dem Wahlzettel institutionalisiert. Das Kästchen erfreute sich großer Beliebtheit. Ein Viertel der Russen hat laut Umfrage-institut VCIOM in den letzten zehn bis 15 Jahren mindestens einmal "gegen alle"gestimmt. Bei landesweiten Wahlen setzten in Einerwahlkreisen bis zu 20 Prozent ihr Kreuz dorthin, bei regionalen Urnengängen bis über 40 Prozent.

Generell hat der anonyme Protestkandidat "G. a."die schwache und teils verschwundene Opposition ersetzt. Laut einer VCIOM-Umfrage raten nur 16,1 Prozent der Wähler, bei Unzufriedenheit eine Oppositionspartei zu wählen; 16,4 Prozent empfehlen "G. a.", 19 Prozent die Nichtteilnahme und 30 Prozent eine herrschende Partei. Gewählt wird "G. a."übrigens vor allem von Bürgern zwischen 35 und 50 mit hoher Bildung, weiß Leonti Bysow von VCIOM.

Favorit nach Putin

Im Unterschied zu den übrigen Wahlen jedoch ist "G. a."bei den wichtigen Wahlen zum übermächtigen Präsidenten nur halb so beliebt. Zumindest so lange es den Kandidaten Wladimir Putin gab. Denn sollte dieser 2008 einem Nachfolger Platz machen, würden laut dem unabhängigen Umfrageinstitut "Lewada-Centr"18 Prozent für "G. a."stimmen, während der beliebteste Nachfolgekandidat, Vizepremier Dmitri Medwedjew derzeit gerade mal bei 10,3 Prozent liegt.

Die Eliminierung der Wahlmöglichkeit "Gegen alle"wird von Beobachtern als demokratiefeindlicher Schritt beurteilt. Schon einmal hat das Höchstgericht den Wegfall dieser Kategorie als verfassungswidrig bewertet. Künftig soll es nur in sehr seltenen Fällen, wenn nämlich bei einer Wahl nur ein Kandidat übrig bleibt (etwa bei Gemeindewahlen), ein Kästchen mit einem lapidaren "Dagegen"geben. (sed/DER STANDARD, Printausgabe, 3. Juli 2006)