Standard: Herr Ruttensteiner, hat sie ein Trend oder ein Team überrascht? Ruttensteiner: Mir hat imponiert, dass der deutsche Bundestrainer Jürgen Klinsmann seine Strategie zwei Jahre lang durchgehalten hat. Er hat gepredigt vom Teamgeist, von der Fitness, das zahlt sich jetzt aus. Er hat im Kleinen eine Superatmosphäre geschaffen und sie nach außen transportiert. Der Teamgeist ist jetzt ein Nationalgeist.

Standard: Lange Zeit hat ihm niemand den Sinn der Sache abgenommen.
Ruttensteiner: Er hat undenkbare Dinge durchgezogen, aus dem Teamhotel hat er die Funktionäre ausquartiert. Jetzt wird das als Königsidee gefeiert. Wäre sein Kalkül schief gegangen, hätte er sich massive Kritik anhören müssen.

Standard: Hat er neue, innovative Sachen gemacht?
Ruttensteiner: Also ich habe nichts gesehen, das der deutschen Sportwissenschaft und -medizin nicht seit 20, 30 Jahren bekannt wäre. Aber er nimmt das ernst, er macht Zeitmanagement, gibt Tagespläne vor, legt Wert auf Psychologie, Sportmedizin und Stabilität, er sagt, wir müssen topfit und technisch-taktisch präzise informiert und eingestellt sein. Er lässt jeden Gegner genauestens analysieren.

Standard: Die topfiten Deutschen glauben an ihre Topfitness und sind doppelt topfit.
Ruttensteiner: Ganz genau. Sie sagen, wir können mit den Schweden bis zur letzten Minute gehen, und genau das machen sie. Die amerikanischen Fitnesstrainer machen kein revolutionäres Programm, aber sie ziehen aus den Übungen eine ungeheure Selbstbestätigung und arbeiten individuell und psychologisch auf den Punkt. Jeder Spieler weiß ganz genau, was er machen soll und wie gut er ist. Das ist alles seriös vorbereitet.

Standard: Es hat nicht immer gut ausgeschaut, von Franz Beckenbauer abwärts wurde Klinsmann kritisiert und verhöhnt.
Ruttensteiner: Man muss nur an das 1:4 gegen Italien vor der WM denken, da waren sie tief im Kakao. Aber Klinsmann hat seine Strategie durchgezogen, er hat das Risiko genommen, und er hat gewonnen.

Standard: Sein Assistent Jogi Löw soll sehr viel beitragen.
Ruttensteiner: Löw kümmert sich hauptsächlich um die technisch-taktischen Belange, ich habe da so einen kleinen Verdacht, weil er ja 2003 bei der Austria war und unser Challenge-Projekt kennt, vielleicht hat er daraus einige Dinge mitgenommen, denn manches erinnert mich an unser Programm. Auch Gespräche mit Matthias Sammer und anderen deutschen Trainern bestätigen mich: Jede Kleinigkeit muss ernst genommen werden. Außerdem hat er in jeder Formation einen Klassespieler, Lehmann, Schneider, Ballack, Klose, dazu außerordentliche Junge wie Lahm, Podolski oder Schweinsteiger, das ist für einen Trainer ein Traum.

Standard: Und Klinsmann macht den Chef?
Ruttensteiner: Er hat sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, für jeden Teilbereich hat er Vollprofis. Frankreichs Trainer Aimé Jacquet hat vor der WM 1998 auch diese Rolle gespielt, und sie sind Weltmeister geworden. Das ist noch nicht selbstverständlich, davon sind wir in Österreich Meilen weit weg.

Standard: Wer hat die besten Chancen auf den Titel?
Ruttensteiner: Mich haben die Argentinier sehr beeindruckt, das wird im Viertelfinale gegen Deutschland ein Top-Spiel. Deutschland wird an die Grenze gehen müssen.

Standard: Die hoch geschätzten Brasilianer? Franzosen? Engländer?
Ruttensteiner: Einige der Brasilianer erscheinen mir nicht fit, aber Ronaldo hat noch Klasse. Die Franzosen haben ohne Zidane mit dem 4-4-2 befreit aufgespielt, Makelele, Viera und Henry sind aufgeblüht. Und dann kam Zidane auch wieder zurück und blühte auch. Die Engländer haben jedes Mal in der zweiten Halbzeit den Schwung verloren. Die Afrikaner haben gezeigt, dass sie Europas Systeme kennen, von der Fitness brauchen wir nicht reden, leider hat es nur Ghana ins Achtelfinale geschafft, das nächste Mal in Südafrika wird das noch besser.

Standard: Dann wäre da noch die Schweiz, unser EURO-2008-Kumpel.
Ruttensteiner: Die haben mich sehr beeindruckt, eine voll professionelle Vorstellung. Sie haben gegen Frankreich zum dritten Mal hintereinander nicht verloren, sie sind körperlich total in Ordnung, und sie haben im gesamten Turnier aus dem Spiel heraus kein Tor gekriegt.

Standard: Warum ist die Schweiz so gut und Österreich so schlecht? Ruttensteiner: Ich kenne die Lage dort genau. Sie haben mit dem Förderprogramm 1994 begonnen, wir 2000, sie haben viele Talente, die sich in der Liga bewähren können und individuell penibel aufgebaut wurden. Hauptsächlich über den FC Basel und seit wenigen Jahren über das Team hat der Schweizer Spieler einen Wert in Europa erhalten, so kommen viele von ihnen ins Ausland. Ein positiver Kreislauf, wir haben den auch in Gang gesetzt, wir müssen nur weiter gehen, auch in den Klubs muss an den Defiziten und Stärken der Besten gearbeitet werden, täglich, mit allen Mitteln. Wir müssen Wissen und Willen akkumulieren, denn wir können das auch, wir müssen es nur tun. (Mit Willi Ruttensteiner sprach Johann Skocek - DER STANDARD PRINTAUSGABE 30.6. 2006)