Hat die Gesellschaft von Männern vorgezogen: Maria Göppert-Mayer mit Ben Mottelson, Hans Jensen & Aage Bohr am Weizmann-Institut.

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Ein Satz, den ein besorgter Vater zu seiner Tochter sagte. Einem Mädchen, das heute vor hundert Jahren zur Welt kam und selbstverständlich Frau wurde - noch dazu eine erfolgreiche. Die zweite, die den Nobelpreis für Physik erhalten sollte: Maria Göppert-Mayer.

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Natürlich wusste der frisch gebackene Professor für Kinderheilkunde, dass Maria eine Frau werden würde, sie war ja ein Mädchen. Aber sein einziges Kind, das sollte studieren, so wie seine Vorfahren, die bereits in der siebten Generation Universitätsprofessoren hervorgebracht hatten. Sein Großvater war Juraprofessor, sein Urgroßvater Botanikprofessor und sein Ururgroßva-ter Professor für Pharmazie gewesen. Allein deshalb wiederholte Friedrich Göppert, der um die Schwierigkeiten wusste, als Frau einen Hochschulabschluss zu erlangen, auf Spaziergängen oder beim Gutenachtsagen immer wieder: "Werde nie eine Frau, wenn du groß bist!".

Gab es doch erst seit 18. August 1908 den Erlass, der Frauen, die vorher nur als Gasthörerinnen geduldet waren, das Studium erlaubte, sofern die Genehmigung des Ministers vorlag. Frauen in Preußen sollten überhaupt erst 1918 das uneingeschränkte Recht zu studieren erhalten.

Die Begründung? "Der Überschuss der weiblichen über die männliche Bevölkerung . . . zwingt einen größeren Prozentsatz der Mädchen gebildeter Kreise zum Verzicht auf ihren natürlichen Beruf als Gattin und Mutter." Gerade das jedoch sollte für die junge Dame Maria, "das schönste Mädchen von Göttingen", nicht die Begründung für ein Studium werden.

Nachbars Garten

Auf die Welt gekommen ist Maria im Sommer in Kattowitz. Als sie drei Jahre alt war, zog die Familie nach Göttingen, wo Friedrich Göppert Leiter der Universitätsklinik wurde. Die Mutter Maria war eine Lehrerin für Sprachen und gab Klavierstunden. Im Nachbargarten sah sie den grauhaarigen David Hilbert, Frauenheld und berühmter Mathematiker, umherwandeln. War etwa er der Grund, dass die Mathematik Maria faszinierte und sie 1924 das Studium der Mathematik begann?

Drei Jahre später starb ihr geliebter Vater. In diesem Jahr 1927 begann auch die Mathematik für sie ihren Reiz zu verlieren. Die Physik trat in ihr Leben, "Rätsel, welche die Natur geschaffen hat, nicht der menschliche Geist." Und das Rätsel, das die Physiker damals in Göttingen am meisten beschäftigte, war der Bau der Atome und die Quantentheorie, an der berühmte Physiker wie Werner Heisenberg, Max Born und Pascal Jordan arbeiteten. In der Zeit ihres Studiums wird Maria Göppert als kühl, unzugänglich, be-herrscht, auch als sehr schön beschrieben: "eine princesse lointaine, eine Märchenprinzessin", schreibt Judith Rauch.

Ihre Freunde sucht sie sich eher unter Männern als unter Frauen. "Ich muss zugeben, dass ich mich zu Frauen nie so sehr hingezogen fühlte", sagt sie, so wie die Dichterin Christine Lavant (1915-1973), die schreibt: "Frauen kann ich . . . nur mit äußerstem Kraftauf-wand ertragen. Es ist, als hätten die meisten einen Plattenspieler eingebaut mit nur einer Platte, aber ununterbrochenem Ablauf."

Besonders fühlt sie sich zu einem Kollegen hingezogen, der im Labor von James Franck arbeitete, Joseph Mayer, genannt Joe, Sohn eines Ingenieurs österreichischer Abstammung, der in Kalifornien aufgewachsen war und Chemie studiert hatte. Sie geht mit ihm schwimmen, wandern und tanzen.

"Werde nie eine Frau, wenn du groß bist!" War die Sorge des Vaters berechtigt gewesen? Im Jänner 1930 werden Maria Göppert und Joseph Mayer im Göttinger Rathaus getraut, und im Februar reicht Maria ihre Doktorarbeit ein, die sie bei dem späteren Nobelpreisträger Max Born (1954) geschrieben hat: "Über Elementarakte mit zwei Quantensprüngen". "Ein Meisterstück an Klarheit und Konkretem", so Eugene Wigner, ihr Mitnobelpreisträger von 1963. Ihre Rigorosen legt sie bei den Nobelpreisträgern James Franck (Physik-Nobelpreis 1925) und Alfred Windaus (Physik-Nobelpreis 1927) ab.

Im März besteigt das junge Ehepaar in Cherbourg den Dampfer mit Ziel New York. Von dort geht es nach Baltimore, wo ihr Joe eine Professorenstelle an der John Hopkins Universität gefunden hat. Maria bekommt keine Anstellung. "Es interessiert", schreibt sie ihrer Mutter, "sich in diesem Land kein Mensch für die Quantenmechanik". Auch die Lage der akademischen Frauen ist in USA keineswegs besser. Die Welt der fest angestellten Wissenschafter ist eine reine Männerwelt.

Auch verbieten die meisten Universitäten eine gleichzeitige Beschäftigung von Eheleuten. Ihre beiden Kinder, Maria (1933) und Peter (1938) kommen zur Welt. Maria arbeitet unbezahlt in der Forschung, sie darf an der Universität ein Dachzimmer für eigene Forschungen benutzen, "Just for the fun doing physics", wie sie sagt.

Fluchthelferin

In den Dreißigerjahren verhilft sie einigen jüdischen Frauen aus Deutschland, die durch die Rassengesetze der Nazis bedroht sind, zu einem Ausreisevisa, indem sie sie als Haushaltshilfe in ihrer Familie beschäftigt. Die Kriegsvorbereitungen der USA berühren auch sie. Joseph Mayer muss in einem Labor in Maryland Sprengstoff testen, und Maria Göppert-Mayer arbeitet an einem Projekt mit, das die Aufgabe hat, den "Sprengstoff" für die amerikanische Atombombe zu gewinnen. Sie arbeitet an der Trennung von Isotopen durch fotochemische Reaktionen und publiziert 1940 zusammen mit ihrem Mann das Buch "Statistical Mechanics".

1946 gehen die Mayers nach Chicago, wo Maria eine Professur, noch immer unbezahlt, erhält. Aber hier findet Maria 1948 ihr Thema. Stellt man, mit der Atomzahl als Abszisse und der Zahl der in einem Kern enthaltenen Neutronen als Ordinate, eine Tafel aller Atomkerne zusammen, ist das Studium dieser Übersichten dann "nur ein Zeitvertreib für Frauen wie mich"? Oder ermöglicht die Anhäufung des Beobachtungsmaterials die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten und führt sie zur Entwicklung von Kernmodellen, die einen Voraussagewert besitzen? Die nach dem Krieg angesammelten Daten wiesen eindeutig auf die Existenz von Schalen hin. Man konnte ihnen in gutem Glauben Energieniveaus und Bahnquantenzahlen zuschreiben.

Magische Zahlen

Und plötzlich tauchten "magische Zahlen" auf: 2, 8, 20, 28, 50, 82, 126, welche die Auffüllung der Schalen auf die gleiche Weise anzeigten wie im Periodischen System der chemischen Elemente, bei dem der Abschluss der Schalen das Charakteristikum der so genannten Edelgase hervorbringt. Enthält ein Kern eine magische Zahl von Neutronen oder Protonen, so hat er eine besonders stabile Konfiguration.

Als Maria, die inzwischen bereits den Spitznamen "Madonna of the Onion" erhalten hatte, trotzdem auf Unstimmigkeiten stößt, hilft Enrico Fermi: "Haben Sie auch an die Berücksichtigung der Spin-Bahn-Kopplung für Kerne gedacht?" "Nein. Aber natürlich, das ist es!"

Und so war es auch. Im vom Krieg heimgesuchten Deutschland wurden unabhängig von Maria Göppert-Mayer ähnliche Untersuchungen von Hans D. Jensen, Otto Haxel und Hans Suess angestellt, die zu gleichen Schlussfolgerungen gelangen. Es entsteht eine intensive Zusammenarbeit zwischen Hans Daniel Jensen und Maria Göppert, die 1955 zu dem gemeinsamen Buch: "Elementare Theorie der nuklearen Schalenstruktur" führt.

1956 wird Maria Göppert in die National Academy of Science gewählt, 1960 erhält sie einen Lehrstuhl für Physik an der Uni in Kalifornien in La Jolla in der "School of Science and Engineering", und 1963 ist es soweit. Am 10. Dezember wird Maria Göppert-Mayer und mit ihr Hans Daniel Jensen (1907-1972) zusammen die Hälfte des Nobelpreises für Physik verliehen. Die andere Hälfte erhält Eugene Paul Wigner (1902-1995). Marias im Publikum sitzender Mann kämpfte mit den Tränen.

"Werde nie eine Frau, wenn du groß bist?" Ja, es gab Skepsis, trotz Zustimmung durch Niels Bohr. Oppenheimer (1904-1967) sagte: "Göppert-Mayer und Jensen erklären das Magische durch Wunder. Auch Wigner äußerte sich ähnlich. Heute sind die Modelle verfeinert und erklären viele der Fakten, die für alle Kerne gelten.

Kurz danach erleidet Maria einen Schlaganfall, ist halbseitig gelähmt. Schon mit 50 Jahren war sie auf dem linken Ohr ertaubt. Ja, sie hatte eine Schwäche für das Rauchen und das Trinken, wie ein Mann. Hatte ihr Vater doch nicht Recht gehabt? Trotz ihres Leidens forscht und publiziert sie weiter und ermutigt junge Frauen, sich der Naturwissenschaft zuzuwenden. Im Dezember 1971 erleidet sie eine Herzattacke. Danach liegt sie zwei Monate lang teilweise im Koma und stirbt am 20. Februar 1972.

"Werde nie eine Frau, wenn du groß bist!" Es gibt auch aktuell gute Gründe, an große Physikerinnen zu denken. Der Vorstand der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft hat Monika Ritsch-Marte, Direktorin der Sektion für Biomedizinische Physik der Medizinischen Universität Innsbruck, als Präsidentin ab 2007 vorgeschlagen. (DER STANDARD, Printausgabe, 28. Juni 2006)