Der Patriotismusforscher Volker Kronenberg hofft, dass die neue Begeisterung auch zur Einsicht führt, dass jeder für seinen Staat etwas leisten muss. Mit ihm sprach Birgit Baumann.

Standard: Haben Sie auch eine Deutschland-Flagge an Ihrem Auto angebracht?

Kronenberg: Nein, aber das soll nicht als Distanzierung verstanden werden. Ich bin einfach nicht der Typ dafür.

Standard: Überrascht Sie die Begeisterung der Deutschen?

Kronenberg: Außerordentlich. Das hat vorher niemand in der Politik, in den Medien und in der Kultur geahnt. Diese Freude und Weltoffenheit, das ist eine neue Qualität, die mit anderen Sportereignissen nicht vergleichbar ist - nicht einmal mit der WM 1954, als Deutschland in Bern den Titel holte und das als Wunder galt.

Standard: Was passiert da gerade in Deutschland? Ist das Patriotismus, Lebensfreude oder einfach nur eine sehr große Party?

Kronenberg: Die Begeisterung bezieht sich nicht nur auf Parties und Fußball. Es herrscht ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber nicht alle, die Flaggen schwenken, sind deswegen schon Patrioten.

Standard: Wer ist Patriot?

Kronenberg: Patriotismus ist, wenn man für das solidarische Gemeinwohl handelt. Wir müssten jetzt den nächsten Schritt schaffen und aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl die Einsicht gewinnen: Alle müssen einen Beitrag zur Res publica leisten. Dann darf man aber nicht gleich wieder erklären, zu keinen Einsparungen bereit zu sein.

Standard: Obwohl die gefühlte Stimmung prächtig ist, verliert die große Koalition in Umfragen. Wie passt das zusammen?

Kronenberg: Patriotismus lässt sich nicht parteipolitisch festmachen. Früher hieß es ja eher: Patriotismus kommt aus der rechten Ecke. Doch man erinnere sich, wie Angela Merkel Friedrich Merz (Ex-Fraktionschef im Bundestag, Anm.)zurückpfiff, als dieser 2002 eine Debatte um Patriotismus und Leitkultur eröffnen wollte. Das passte nicht zu ihrer Liberalität.

Standard: Haben sieben Jahre Rot-Grün den Patriotismus der Deutschen verändert?

Kronenberg: Gerhard Schröder hat diese Begrifflichkeit geöffnet. Er nahm als Erster deutscher Kanzler an der 60-Jahr- Gedenkveranstaltung der Alliierten in der Normandie teil und bezeichnete Deutschland im europapolitischen Kontext als erwachsene, selbstbewusste Nation. Auch indem er beim Gedenken an den Widerstandskämpfer Stauffenberg von dessen Patriotismus sprach, gelang es ihm, ein multiperspektivisches Geschichtsbild zu zeichnen. Das war ein Fortschritt. Patriotismus darf ja nicht heißen, die Geschichte schönzureden.

Standard: Vom Patriotismus ist es nicht weit zum Nationalismus. Kann die im rechtsextremen Dunstkreis gerne gebrachte Aussage "Ich bin stolz, Deutscher zu sein"in Deutschland je Normalität werden?

Kronenberg: Das glaube ich nicht. Auch wenn wir derzeit einen Normalisierungsprozess im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation erleben, so wird doch auch in Zukunft die Erinnerung an die nationalsozialistische Erfahrung die Menschen von allzu großem Nationalstolz abhalten. Dass die deutschen Nationalfarben jetzt bei der breiten Masse so beliebt sind, gräbt den Rechten das Wasser auch eher ab.

Standard: Kann man auf ein Land überhaupt stolz sein?

Kronenberg: Ich verbinde Stolz nicht mit einem Land, sondern mit eigener Leistung. In Deutschland geboren zu sein, ist ja kein Verdienst. Man sollte sich auch beim Begriff "Liebe"etwas zurückhalten. Mein Land liebe ich nicht, aber ich fühle mich ihm verbunden.

Standard: Wird die Euphorie vorbei sein, wenn Deutschland heute im Achtelfinale gegen Schweden ausscheidet?

Kronenberg: Dann wären wir schon sehr traurig. Aber die Freude darüber, dass das Land diese WM zustande gebracht hat, die wird bleiben. (DER STANDARD Printausgabe 24./25.06.2006)