Wien - Wenn die Nächte kürzer werden, beginnen die langen Nächte: der Museen, der Musik, des Hörspiels, neuerdings der Kirchen. Und saisonbedingt nun auch "mit Sigmund Freud".

In der großen Halle des MAK wurden am vergangenen Freitag Texte von, über, für und gegen Freud gelesen. Das Kunststaatssekretariat hatte zum Thema "Das sind wir! Sind wir das?" geladen, Franz Morak "eine heiße Nacht" gewünscht. Das war sie, schon allein wettermäßig.

In Marathonstafettenmanier nahmen Personen des Wiener Kulturlebens nacheinander Platz und lasen - nachdem Originaltexte des Psychoanalytikers den jeweiligen Rahmen vorgegeben hatten - aus den Werken von Autoren, die sich mit seinen Ansichten zum Ödipuskomplex, zu Träumen, zu Politik und Antisemitismus und unzähligem anderen auseinandergesetzt hatten. Von 20 Uhr bis weit nach Mitternacht ging der Reigen, zitiert wurden von Ilse Aichinger bis Slavoj Zizek.

Was an Vorlesern aufgeboten wurde - ebenfalls eine fast hundertköpfige Menge, von Architekten über Museumsdirektoren und Schauspielern bis zu Society-Größen -, diente dem Zweck der Veranstalter, sich an Freud in lockerer und pointierter Weise abzuarbeiten (Konzept und Texte: Reinhard Urbach).

Das funktionierte über weite Strecken, vor allem wenn gute Einzelbeobachtungen entsprechend dargeboten wurden und hervorstachen: Ein Bild aus einem Brief Freuds an Schnitzler sagt mehr als viele Fußnoten. Das regte auch zu Kollisionen im eigenen Hirn an und mag es gelegentlich überfordert haben, etwa wenn Texte von Hans Kelsen, Freud und Ernst Jünger unmittelbar aufeinanderfolgten und die Zitierten nur ungenügend vorgestellt und eingeordnet wurden.

Spannend war es zu sehen, wie an dem Abend "Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" sich die Lese-Bälle zuspielten, die sich normalerweise eher aus dem Weg gehen. Nicht sehr psychoanalytisch, aber sehr wienerisch.

Die meisten Zuhörer harrten bis zum Schluss aus. Im Übrigen wird man die Nacht bald als Livestream nacherleben können. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.6.2006)