"Es handelt sich um ein Missverständnis, wenn wir eine Wertedebatte führen und glauben, wir führten eine Moraldebatte. In Wirklichkeit führen wir eine Debatte über kalkulierbare Präferenzen": Konrad Paul Liessmann und Franz Schuh im Gespräch.

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Franz Schuh: Ich beginne mit einem Vorgeplänkel, das die Unmittelbarkeit von Philosophie betrifft. Konkret geht es um die Dokumentation von Vorträgen und Gesprächen, wie es auch hier der Fall ist. Andererseits gibt es das Sokratische des freien Sprechens, des sich verflüchtigenden Augenblicks, der gerade dadurch umso deutlicher im Gedächtnis bleibt. Daher also die Frage: Wie siehst du das mit dem Dokumentieren unmittelbarer Situationen. Auch in Bezug auf das Philosophicum Lech, dem Denken im Freien, um ein Nietzsche-Wort zu verwenden.

Konrad Paul Liessmann: 6000 Fuß über dem Meer hat Nietzsche die Idee zum Zarathustra empfangen, in Sils Maria, wo er sich damals aufhielt. Es stimmt schon, nicht nur an der freien Luft denken, mag anregend sein, es geht auch um den Gegensatz zwischen der alten sokratischen Idee, dass sich die Philosophie im Gespräch, in der Auseinandersetzung, in der Interaktion, in der Lebendigkeit des Denkens zu erfüllen und zu profilieren habe. Auf der anderen Seite gibt es den Dokumentationswahn unserer Zeit, der aber schon bei Platon begonnen hat als er seine Dialoge zuerst aufzeichnete und dann bearbeitet hat. Er setzte damit der sokratischen Idee der Lebendigkeit ein erstes frühes Ende, zeigte aber auch, dass Philosophie diese eine Seite des lebendigen Denkens hat, andererseits aber auch die der Verschriftlichung, wobei sich Platon darüber klar war, dass die Verschriftlichung eine ziemlich gefährliche Sache ist. Es gibt ja diesen, was die Provenienz betrifft, umstrittenen Brief, den er an Freunde geschrieben hat, wo er rät, um festzustellen, ob jemand wirklich einen Sinn für die Philosophie habe, soll man mit ihm zu philosophieren beginnen. Sobald der anfängt mitzuschreiben, ist klar, dass er für die Philosophie verloren ist, denn er will offensichtlich Weisheiten, Ratschläge, Merksätze. Gerade das ist nicht die Sache der Philosophie.

Schuh: Gibt es für dich eine spezifische Art von Öffentlichkeit, die durch Philosophie überhaupt erst da ist und die ohne Philosophie gar nicht wäre?

Liessmann: Ich habe bis vor Kurzem gedacht, ich hätte eine einfache Antwort auf diese Frage, aber die Erfahrungen gerade der letzten zwei, drei Wochen lassen mich hier etwas zögern. Ich bin in den letzten Tagen immer wieder gebeten worden, zu bestimmten Themen in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen. Die Themen waren, es liegt auf der Hand, der österreichische Rundfunk, vor allem die Fernsehabteilung, der Life Ball, die Bank für Arbeit und Wirtschaft, die Entwicklung der Arbeitswelt und, obwohl wir gesagt haben, wir erwähnen das heute hier nicht, die Fußball WM. Ich habe dann jeweils gefragt, warum soll ich zu diesen völlig heterogenen Themen ein Statement abgeben? Die Antwort: "Wir haben gedacht, Sie als Philosoph könnten gerade dazu etwas Interessantes sagen." Daraus ergibt sich eine interessante Beobachtung. Wenn es eine Öffentlichkeit für Philosophie gibt, ist sie offensichtlich höchst unspezifisch. Das korreliert in gewisser Art mit der Ur-Rolle, welche die Philosophie bei Sokrates gespielt hat, der sich ja auch an keine spezifische Öffentlichkeit wandte, sondern an die Öffentlichkeit schlechthin, ihr Adressat ist der Mensch.

Schuh: Und jetzt kommt sozusagen die Hammerfrage. Was ist der spezifische Blick der Philosophie auf den Menschen?

Liessmann: Es gab ja einen Philosophen, der mit dem Hammer philosophiert hat: Nietzsche. Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Die meisten Menschen kennen nur den Titel des Buches, es lohnt sich aber, es ganz zu lesen, dann wird sofort klar, was es heißt, mit dem Hammer zu philosophieren und es wird auch sofort klar, was der spezifische Blick des Philosophen auf den Menschen ist. Der Hammer, mit dem Nietzsche philosophiert, ist nämlich nicht der schwere Vorschlaghammer, mit dem die Werte, Urteile, Vorurteile oder Konventionen seiner Zeit zertrümmert werden, sondern der Hammer ist das Hämmerchen des Mediziners mit dem die Kniesehnenreflexe getestet werden. So wie der Mediziner diese Reflexe kontrolliert, testet der Philosoph den Mensch und die Gesellschaft. Oder wie Nietzsche an einer anderen Stelle das Hämmerchen beschreibt, es ist das Hämmerchen mit dem man eine Wand daraufhin abklopft, wo es hohl klingt. Wo sind die Hohlstellen, die Sprechblasen, die Denkblasen, wo sind die Dummheiten? Es geht darum, herauszufinden, wo wir dünnhäutig sind, um daraufhin Überlegungen über unsere anthropologische Verfasstheit anzustellen und herauszufinden, was denn wirklich die entscheidendsten, die tiefsten, die basalsten und oft auch banalsten Motive unseres Denkens, Handelns und Fühlens sind.

Schuh: Als ich "Der Wert des Menschen" (der im Zsolnay Verlag erschienene Sammelband zum letztjährigen Philosophicum in Lech) las, hat genau dieser Hammer funktioniert. Schon der Titel trifft einen Nerv und als Reklame für den Verlag sei gesagt, dass diese Bände ideal sind als Einführung in die Philosophie, einfach deswegen, weil man Philosophieren durch Philosophie lernt, so wie man Schwimmen durch Schwimmen lernt und man hat hier die Möglichkeit, sehr viele Philosophen kennen zu lernen. Eine bessere Einführung in die Philosophie kann es meiner Meinung nach nicht geben. Es sei denn, eine gewisse Konzentration auf Einsamkeit. Wenn mich einer fragen würde, was der Mensch für einen Wert hat, würde ich zunächst einmal zurückzucken, etwas politisch Korrektes einlassen und sagen, ob er überhaupt einen Wert hat, das zeigen die Alltagskommunikationsformen. In einer Kriegssituation hat der Mensch einen ganz anderen Wert als im Krieg. Wie siehst du das Hämmerchen in Bezug auf diese Wertfrage?

Liessmann: Ich glaube, das Hämmerchen in Bezug auf die Wertfrage liegt vor allem darin, dass wir auf der einen Seite, wenn wir vom Wert des Menschen sprechen, den Begriff positiv konnotieren und mit Menschenwürde, Menschenrechten und dergleichen mehr verbinden. Auf der andern Seite, wenn man dann das Hämmerchen anlegt und den Begriff des Wertes abklopft, um in dieser Metaphorik zu bleiben, stellt sich relativ schnell heraus, dass gerade der Begriff des Wertes eingeführt wurde, um mit den Instrumentalisierungsmöglichkeiten des Menschen kalkulieren zu können. Der Begriff des Wertes ist ein ökonomischer und kein ethischer Begriff, kein Begriff der Moral. Es handelt sich um ein Missverständnis, wenn wir eine Wertedebatte führen und glauben, wir führten eine Moraldebatte. Nein. Wenn wir eine Wertedebatte führen, führen wir eine Debatte über unsere kalkulierbaren Präferenzen.

Das heißt, in dem Moment, in dem wir vom Wert des Menschen reden, haben wir schon die faktische Realität anerkannt, dass Menschen für Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Situationen einen unterschiedlichen Wert darstellen. Bis zu dieser ganz dramatischen Drastik, dass sie manchmal überhaupt keinen Wert oder sogar eine Irritation darstellen und ihren Wert als Menschen erst dann gewinnen, wenn sie verschwunden sind, wie etwa in einer Kriegssituation. Oder auf der andern Seiten, dass Menschen für andere einen so großen, unverzichtbaren Wert darstellen, dass man glaubt, um den zu halten, muss ich, wie zum Beispiel Ackermann von der Deutschen Bank, acht Millionen Euro pro Jahr anbieten, weil er sonst auf und davon ist.

Schuh: Das ist doch ein Moment, wo der ökonomische Wert umschlägt in einen fast pseudomoralischen sozialen Wert, jenseits der ökonomischen Vernunft.

Liessmann: In dem Moment, in dem ich den Menschen als etwas sehe, dem nichts Objektives qua Menschsein zukommt, wird er notgedrungen zum Spielball unterschiedlichster Interessen. Und der Gegenbegriff dazu, der von Kant gegen den Begriff des Wertes stark gemacht wurde, war der Begriff der Würde, der keine subjektive Präferenz enthält. Würde hat man, zumindest nach der Theorie der Aufklärung, qua seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch und egal, welche Rolle ich spiele, welchen Nutzen ich für jemanden habe, die Würde ist unveränderbar, sie ist jemandem auch nicht zu nehmen. Und das ist meiner Meinung nach die interessanteste Debatte gegenwärtig, ob es überhaupt noch sinnvoll sein kann, an diesem Begriff der Würde, der ein metaphysischer Begriff ist, oder ob es nicht unserem Quasi-Materialismus entspräche, nüchtern zu sagen, es geht nur darum, welchen Wert der Mensch in unterschiedlichen Situationen für andere hat.

Im Jahr 2004 wurde der Begriff "Humankapital" zum Unwort des Jahres gewählt. Das war eine der Wahlen zum Unwort, die am meisten Kritik hervorgerufen hat, weil viele mit Recht darauf hingewiesen haben, dass der Begriff "Sozialkapital" gerade als positiver Begriff stark gemacht wurde, um eben auch unter dem Gesichtspunkt einer entfesselten Ökonomie - auch die Unternehmer - darauf hinzuweisen, dass der Mensch eine schützens- und ausbauenswerte Ressource darstellt, mit der man gleichsam sorgsam umgehen muss. Es findet sich auch ein Text im erwähnten Bändchen, der darauf aufmerksam macht, dass diese wechselseitige Durchdringung mit Metaphern, also eine Metapher aus der Ökonomie, die plötzlich auf den Menschen angewandt wird, dass dieses wechselseitige Spiel ständig gespielt wird. Das Wort Kapital zum Beispiel ist eine anthropologische Metapher, leitet sich von "Caput" ab, dem "Haupt", und meinte ursprünglich die Hauptsache, das, was einem wichtig ist, was man im Kopf trägt, und wurde dann in die Ökonomie transferiert. Umgekehrt, noch bevor sich der Kapitalismus entfalten konnte, haben Denker wie etwa Herder oder auch Kant, das Vermögen des Menschen, das deutsche Wort Vermögen hat ja genau diese Doppeldeutigkeit, also das, was ich in mir als Anlage trage, was ich imstande bin zu entfalten, was aus mir werden kann. Für dieses Vermögen des Menschen gibt es bei Kant die schöne Formulierung der "inneren Barschaft". Der Körper als metaphorische Brieftasche.

Wie auch immer, diese Vorstellung, dass wir mit unserem Vermögen in einem quasi ökonomischen Sinn haushalten müssen und dass, je nachdem wie klug wir mit unserem eigenen Vermögen haushalten, auch ein gewisser Wertanspruch erwächst, spiegelt sich in der modernen Managementliteratur durchaus wider. Also derjenige Mitarbeiter, der seine Fähigkeiten klug einsetzt, der sich schult und weiterbildet, stellt einen höheren Wert dar als der, der sich gehen lässt. In dieser neuen Stress- und Wettbewerbssituation tauchen alle als antiquiert gehandelten Tugendvorstellungen etwa der Nikomachischen Ethik des Aristoteles wieder auf. Wir wissen es nicht, außer wir sind Philosophen und da sind wir wieder bei der Philosophie und Öffentlichkeit. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.6.2006)