Grafik: DER STANDARD
Wien – Umverteilung in der Gesellschaft findet statt – aber seit Jahren geht sie zugunsten von Unternehmensgewinnen und zulasten von Löhnen aus. "Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft birgt eine enorme soziale Sprengkraft", warnt Werner Muhm, Direktor der AK Wien sowie der Bundesarbeitskammer, "und die Schieflage verstärkt sich von Jahr zu Jahr. Verlierer sind die Arbeitnehmer und der Mittelstand."

Schere geht auf

Muhm nennt viele Belege für seine Behauptung (siehe Grafik): Die Schere zwischen Unternehmensgewinnen (und selbstständigem Einkommen) und Löhnen geht seit Längerem zugunsten von Gewinnen auf – aber besonders stark seit 2000. Die Lohnquote (der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) ist von fast 78 Prozent 1978 auf zuletzt 63 Prozent gesunken. Und die im Börsenindex ATX gelisteten Unternehmen würden trotz Rekordgewinnen immer weniger Steuern abführen. Im heurigen Jahr erwartet die AK bei Einkommens-, Kapitalertrags- und Körperschaftssteuer ein Loch von einer Milliarde Euro.

"Was hat diese Entwicklung gebracht? Das Wachstum in Österreich" – das durch die Steuersenkungen angekurbelt werden sollte – "hat nicht ausgereicht um die Beschäftigungsschwelle zu überspringen", der Punkt an dem es zusätzliche Beschäftigung gibt, was erst bei zwei bis zweieinhalb Prozent Wachstum erwartet wird.

Die "Schieflage" der Einkommensverteilung sei nur ein Teil des Problems, sagt Muhm, denn immer größere Bevölkerungskreise "zahlen mehr Steuern und mehr für Leistungen, aber bekommen immer weniger Leistungen". Gesundheitsbereich, Bildung: Der öffentliche Anteil sei rückläufig, die private Finanzierung würde zunehmen.

Lohnsteuerüberhang

Dabei tragen Lohnsteuerpflichtige einen immer größeren Anteil am Staatsaufkommen, zuletzt 30,4 Prozent (2001: 27,9 Prozent), während umgekehrt der Anteil der Einkommenssteuer (aus selbstständiger Arbeit) im gleichen Zeitraum von 7,1 auf 4,8 Prozent gesunken sei (Grafik).

Die AK, die sich ebenso wie die Gewerkschaft frühzeitig auf eine EU-Mitgliedschaft festgelegt habe, sehe darum die derzeitige EU-Erweiterung überaus kritisch.

"Die Vorteile daraus sind ungleich verteilt": Großunternehmen hätten sich dank der Rechtssicherheit große Märkte erschließen und den Steuerwettbewerb nutzen können, "während sie auf dem Klavier der unterschiedlichen Lohn- und Sozialstandards spielen können".

Koppelung gefordert

Muhm fordert darum, anders als zuletzt Unternehmer Hannes Androsch, eine deutliche Koppelung der Löhne an die Produktivitätsentwicklung. Auch die EZB-Zinserhöhung kritisiert Muhm: "Der Ölpreis hat sich nicht auf die Lohnentwicklung niedergeschlagen, ich kann nicht erkennen, wo die Inflationsängste herkommen." Andererseits würde die Zinserhöhung alle treffen, die Schulden haben – öffentliche wie private Haushalte.

"Armut wird zu einem echten Phänomen in der EU werden", sagt Muhm, "längerfristig untergräbt diese Ungleichheit die Leistungsgesellschaft". Bisher habe es die "Working Poor" (Menschen, die trotz Vollzeitjobs ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können) in Europa nicht gegeben, jetzt brauchen immer mehr mehrere Jobs. (spu, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.6.2006)