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Heiner Goebbels: "Mir liegt jede Art von Ver- schmelzung der Theatermittel fern, die für Wagner so wichtig war."

Foto: EPA/Toni Garriga
STANDARD: Herr Goebbels, mit dem Titel Ihres Projekts stellen Sie jeden, der eine Karte dafür kaufen möchte, vor gewisse Schwierigkeiten. Das schwieriger zu lesende als auszusprechende Wort "Eraritjaritjaka" bezeichnet in der Sprache der australischen Ureinwohner einen Zustand "voller Verlangen nach etwas, das verloren gegangen ist." Auf welchen Verlust, auf welches Verlangen spielen Sie an? Goebbels: Zunächst geht es mir darum, von einem Publikum nur Neugier zu verlangen. Das funktioniert mit so einem Titel. Aber im Ernst: Das Stück ist weit weniger nostalgisch, als der Begriff nahe legen könnte. Ich möchte nicht, dass man die Erfahrungen schon abhakt, bevor sie gemacht sind.

STANDARD: Für Ihr "Museum der Sätze" haben Sie Texte von Elias Canetti zusammengestellt: aus dem Roman "Die Blendung", dem Essay-Band "Masse und Macht", vor allem aber aus seinen Aufzeichnungen über Alltägliches - auf die szenische Vorgänge in "Eraritjaritjaka" reagieren. Wie kam es zur Textauswahl?
Goebbels: Durch Lesen, Wiederlesen - fünf Jahre lang. Das Schöne beim Lesen besteht doch gerade auch in der Offenheit der Sätze. Jedes Mal, wenn man die Aufzeichnungen Canettis aufschlägt, findet man einen neuen Satz oder liest den alten anders. Die Schwierigkeit besteht nur darin, wie man diese Offenheit auch für den Zuschauer erhalten kann. Wie kann man verhindern, was Theater so oft tut: den Blick zu verengen und alle Textmöglichkeiten auf eine einzige zu reduzieren.

STANDARD: Der Abend beginnt scheinbar in einer gediegenen Konzertsituation, in der das Mondriaan Quartett Schostakowitsch spielt. Diese Ebene wird doppelt aufgebrochen: in der Verdichtung der Musik zu elektronischen Klängen und in der Verbindung musikalischer Gesten mit dem gesprochenen Wort. Wie sehen Sie hier das Verhältnis zwischen Sprache und Musik und später ihre Verbindung mit dem Film?
Goebbels: Ich hoffe auch hier, dass die Verbindung jedes Mal eine andere ist, dass die Prioritäten wechseln: einmal ist sogar ein Scheinwerfer der Hauptdarsteller, und der Film, den wir in jeder Aufführung neu drehen und live zeigen, folgt Takt für Takt der Musik von Maurice Ravel. Mal schlägt der Schauspieler André Wilms die Partitur zu und lässt die Musik verstummen, an anderer Stelle spricht er einen Text Canettis als fünfte Stimme zur vierstimmigen Kunst der Fuge von Bach.

STANDARD: André Wilms, mit dem Sie bevorzugt zusammenarbeiten, hat Sie einmal einen "Zapper" genannt. In der Tat scheint der unerwartet rasche Wechsel zwischen Situationen und Kunstformen ein gemeinsamer Nenner für die Vielfalt Ihrer Theaterformen zu sein. Sehen Sie die Überraschung als zentrale ästhetische Kategorie?
Goebbels: Eine Überraschung hält nur wenige Sekunden. Mir ist es sogar lieber, wenn der Zuschauer zunächst gar nicht merkt, wie er überrascht wird, sondern sich nach einer Weile in einem anderen Zustand befindet. Es gibt in meinen Stücken einen schwebenden Wechsel zwischen den Gattungen und der kann vielleicht verhindern, dass man nach wenigen Minuten schon weiß, wie es weitergeht. Aber ich mache das nicht, um zu imponieren, sondern weil ich den sicheren Eindruck habe, dass die Erfahrung eines Zuschauers individueller und stärker ist, wenn sie nicht nur auf quasi erfolgreicher Mitteilung beruht, sondern auf dem jeweils eigenen Zusammensetzen der verschiedenen Wahrnehmungsebenen: Hören, Sehen, Verstehen, Nichtverstehen, usw.

STANDARD: Ihre Arbeiten werden häufig als "Gesamtkunstwerke" bezeichnet. Führt nicht die "Unabhängigkeit der Mittel" (Bert Brecht), die in Ihren Arbeiten realisiert scheint, zu einer "Kollision der Künste", wie Sie das selbst einmal genannt haben, und damit gerade zu einer Dekonstruktion des Gesamtkunstwerks? Goebbels: So ist es, mir liegt jede Art von Verschmelzung der theatralen Mittel fern, die für Wagner und seine Anhänger so wichtig ist. Ich glaube, der Zuschauer findet sich am ehesten selbst in den Zwischenräumen - auch in dem, was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst und wofür er einen zweiten bereithält. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.6.2006)