In seiner Kritik der Gewalt hat Walter Benjamin einst den Versuch unternommen, die Faszination und Bewunderung zu erklären, welche "die Gestalt des ‚großen Verbrechers’" auf das Volk ausübt. Was an ihnen fasziniert, so Benjamin, sind nicht die von ihnen begangenen Verbrechen, sondern die Tatsache, dass sie es wagen, eine bestehende Rechtsordnung in Frage zu stellen.

Lesen wir die Begründung der Jury, warum sie gerade Peter Handke den Heinrich-Heine-Preis zugesprochen hat, dann hören wir Folgendes: Eigensinnig, wie Heinrich Heine, verfolge er, Peter Handke, in seinem Werk seinen Weg zu offener Wahrheit. Da er seinen poetischen Blick stets rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und deren Rituale setze, habe die Jury ihm 2006 den Heinrich-Heine-Preis zuerkannt. Folgen wir dieser Einschätzung der Jury, dann zeichnet sich nicht nur die Dichtung Heinrich Heines, sondern auch das Werk von Peter Handke in besonderem Maße durch die Kraft aus, gegen die Normativität des Faktischen anzuschreiben. Die Vorherrschaft gängiger Rituale und veröffentlichter Meinungen rücksichtslos zu brechen, ist für solche Art Dichtung entscheidend. Eine "poetische Strategie des Bruchs", die eine gesellschaftliche Öffnung des Blicks in Richtung auf eine "offenere Wahrheit" bewirken möchte.

Friedrich Nietzsche, selbst ein großer Verehrer Heines, hat eine solche Haltung einst eine Unzeitgemäße Betrachtung genannt. "Unzeitgemäß, – das heisst eben gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – wirken." Der Wert einer Unzeitgemäßen Betrachtung beruht für ihn darin, die Legitimität des herrschenden Zeitgeistes in Frage zu stellen, um ihn anachronistisch zu unterlaufen und zugunsten einer kommenden Zeit aufzubrechen. So wie die Figur des großen Verbrechers in Benjamins Kritik der Gewalt die Legitimität des herrschenden Rechts herausfordert, so fordert jede Unzeitgemäße Betrachtung die herrschenden Sitten, Lesarten und Wertschätzungen eines Zeitalters heraus. Was an der Figur einer solchen unzeitgemäßen Schreib- und Betrachtungsweise fasziniert, ist auch hier die Macht der Schreibenden, die Normativität faktischer Geltungen dichterisch zu hinterfragen und damit poetisch in Frage zu stellen.

In seinem Büchlein Gesetzeskraft hat Jacques Derrida diese Fähigkeit des Menschen, mit herrschenden Normen brechen zu können, als mystischen Grund der Autorität bezeichnet. Da es für die Auffassung von Humanität – zumindest in der Tradition des europäischen Humanismus – geradezu konstitutiv ist, für das Recht einzutreten, die Legitimität bestehender Geltungen öffentlich in Frage ziehen zu dürfen, kann es ohne Respekt vor diesem mystischen Grund der Autorität offensichtlich keinen humanistischen Begriff von Gerechtigkeit geben.

Als radikales Beispiel der Einforderung dieses Rechts, geltendes Recht in Frage stellen zu dürfen, führt Jacques Derrida in Gesetzeskraft niemand anderen an als jenen französischen Anwalt Jacques Vergès, der einst die Verteidigung von Slobodan Milosevic übernommen hat. Hat sich der "Anwalt des Teufels", wie er von der Boulevarde Presse gerne bezeichnet wird, doch zur Lebensaufgabe gemacht, die Verteidigung "großer Verbrecher" zu übernehmen. Er, so Derrida, "übernimmt die Verteidigung bei den schwierigsten Fällen, dann, wenn es sich in den Augen der Mehrheit um unhaltbare und unerträgliche Angelegenheiten handelt; er praktiziert, was er die ‚Strategie des Risses oder des (Ab)bruchs’ nennt, das heißt, er macht der bestehenden Rechtsordnung ihre Legitimität streitig". Indem er mit den Angeklagten vor Gericht erscheint, um dem Gericht seine Legitimität abzusprechen, beansprucht er für sich das Recht, die bestehende Rechtsordnung in Frage zu ziehen.

Auch in diesem Fall lässt sich die "mystische" Bewunderung, die Vergès anlässlich solcher Prozesse etwa in Frankreich ausgelöst hat, dadurch erklären, dass er eine Figur verkörpert, die es wagt, öffentlich in Erscheinung zu treten, um die Legitimität geltenden Rechts herauszufordern. Eine Macht, die fasziniert, da sie so eng mit unserem humanistischen Verständnis von Menschsein verbunden ist, dass es uns schwer fällt, eine Menschlichkeit auch nur zu denken, die ohne dieses Recht auf Widerstand gegen herrschende Normen denkbar wäre. – Oder können wir uns eine Gerechtigkeit denken, die ohne das Recht auskäme, dass ihre Bürger über geltendes Recht und gängige Meinungen hinausgehen dürfen? Was wäre eine Gerechtigkeit wert, die sich nicht mehr in Distanz zum herrschenden Recht befände?

Jede demokratische Verfassung, die ihrem Namen gerecht werden möchte, wird sich folglich davor hüten müssen, das unverbrüchliche Recht auf Distanznahme zum herrschenden Recht einschränken zu wollen. Selbst dann, wenn jene, die gängige Riten und veröffentlichte Meinungen "eigen-sinnig" anklagen im Unrecht sein sollten, gilt es zwei Ebenen auseinander zu halten: Einerseits das unveräußerliche Recht demokratisch verfasster Staaten, ihren Bürger/innen einen eigenwilligen, unzeitgemäßen Blick auf gängige Lesarten historischer Ereignisse zu ermöglichen, andererseits das unveräußerliche Recht aller Bürger/innen, sich auch von unorthodoxen, alternativen Lesarten der Geschichte öffentlich distanzieren zu können, wo immer ihnen diese fragwürdig scheinen.

Die höhere Gerechtigkeit, welche demokratisch verfasste Staaten von autoritär verfassten Staaten abgrenzt, beruht unter anderem also darin, auf der hauchdünnen Kluft zwischen geltendem Recht und der legitimen Möglichkeit, die Legitimität desselben in Frage zu stellen, zu insistieren. Dieses generelle "Streikrecht" gegenüber der Normativität des Faktischen – sei es in Bezug auf die eigene Arbeitskraft und deren realen Bedingungen, sei es in Bezug auf gängige Meinungen, Rituale, Normen, Sitten oder poetische Satzungen, ist für demokratisch verfasste Staaten eben nicht bloß ein Recht unter anderen. Es ist vielmehr ihr Herz, an dem sich das Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft beweist und immer wieder zu beweisen hat. Denn dort, wo Gerechtigkeit im herrschenden Recht aufgeht, hat sie sich nicht vollendet, sondern ist sie am Ende.

In diesem Sinne gilt es die Autonomie der Kunst gegenüber der Forderung nach "political correctness" jederzeit den Rücken zu stärken. Selbst dann, wenn sich eine offene Wahrheit als Irrlicht erweisen sollte. "Der Generalstreik", so Jacques Derrida in Gesetzeskraft, "versieht uns mit einem kostbaren Leitfaden, da er ein verliehenes Recht ausübt, um die existierende Rechtsordnung in Frage zu stellen."

Danke, Peter Handke.