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STANDARD: Wie wichtig ist die Virtuelle Anthropologie in Ihrer Disziplin geworden? Weber: Bisher lief die Interpretation und Rekonstruktion von Fossilien so, dass die großen Koryphäen einen Schädel in die Hand nahmen und einfach sagten: ,Der ist hier ein bisserl weiter ausgebeult und dort nach vorne verzogen.' Das ist natürlich trotz aller Kennerschaft subjektiv.

STANDARD: Und was können Sie mit Ihren Methoden besser?

Weber: Unsere Rekonstruktionen kann man auch kritisieren, aber sie sind leicht für andere reproduzierbar. Und was kein Mensch leisten kann, ist, die Informationen von hunderten Schädeln gleichzeitig im Kopf zu sortieren, die Maße statistisch auszuwerten und daraus Gruppen zu bilden, um etwa Neandertaler und Homo sapiens zu unterscheiden.

STANDARD: Und wie reagieren die Cracks?

Weber: Es ist ihnen ein bisschen unheimlich, weil sie nicht den Zugang zur Methode haben. Aber sie sehen, dass die quantitative Morphometrie relevante Ergebnisse bringt. Wir hatten gerade Jeffrey Schwartz aus den USA zu Gast, einen der ganz wenigen Paläoanthropologen weltweit, die praktisch alle wichtigen Fossilien gesehen haben. Unser Ziel ist es, diese analoge Welt eines Jeffrey Schwartz in den Computer zu transferieren und daneben unser Archiv auszubauen und anderen Forschern zugänglich zu machen.

STANDARD: Fossilien für alle klingt nett. Aber viele Paläoanthropologen wollen ihre Funde lieber für sich behalten.

Weber: Natürlich sind die Interessen von Forschern zu schützen. Wir graben ja auch in Äthiopien, und ich weiß, wie viel Energie es kostet, einen kleinen Zahn aus dem Fels herauszubringen. Aber es gibt Fälle, in denen jemand seit 20 oder 30 Jahren auf einem Fund sitzt, und niemand darf ihn anschauen. Fünf bis zehn Jahre sollten eigentlich genügen, um ein Fossil gründlich zu untersuchen und zu publizieren. Wenn das jemand nicht schafft, braucht er offensichtlich Unterstützung von Kollegen. Es geht schließlich um das Erbe der Menschheit. (DER STANDARD Printausgabe, 7. Juni 2006)