"Schon Torte bestellt?" Andrès Orozco-Estrada tritt zur Begrüßung an den Tisch eines Wiener Kaffeehauses. Das exquisite Tortenangebot war für die Wahl des Treffpunkts ausschlaggebend.

Er wurde 1977 in Medellin, Kolumbien, geboren. Dass er nach der Drogenszene seiner Heimat gefragt wird, ist der junge Dirigent gewohnt. Es stört ihn nicht. "Es macht die Leute neugieriger. Das Schöne ist, es gibt mir Gelegenheit, von meinem Land zu erzählen." In seiner Kindheit hat Orozco-Estrada die Drogenproblematik in Medellin miterlebt: Bomben, Straßenschlachten. Seit einigen Jahren bessert sich die Situation.

Ein Musikprogramm, ähnlich wie in Venezuela, gibt Jugendlichen von der Straße eine Perspektive. "Es ist das soziale Chaos, aus dem die Probleme Drogen, Gewalt, Intoleranz kommen. In manchen Bezirken leben die Menschen in Häusern aus Karton, ohne Strom". Das Geld war in Orozco-Estradas Jugend knapp, künstlerischer Anreiz nicht.

"Ein Onkel hatte eine folkloristische Musikgruppe. Ich konnte als Zweijähriger die komplizierten Rhythmen nachmachen und durfte bei den Konzerten Triangel spielen." An den Besuch klassischer Konzerte oder an eine Ausbildung war nicht zu denken. "Musikschule gab es keine. Und zwei Konzertkarten hätten so viel gekostet wie das Essen für eine Woche." Eine Zeitungsannonce veränderte alles. Medellin eröffnete eine Musikschule. Schwerpunkt Klassik. Ein Experiment. Klein Andrès bestand die Aufnahmeprüfung, bekam ein Stipendium. Neben Kinderchor und Geigenunterricht machte sich der Hang zum Dirigieren schon bald bemerkbar.

"Wir hatten eine furchtbare Kassette von Mozarts Eine kleine Nachtmusik. Ich habe das nicht nur dirigiert, sondern mir das Orchester vorgestellt und mit den Musikern gesprochen." Die Mutter war alarmiert und zog den Schulpsychologen zurate. Der attestierte dem Buben geistige Gesundheit - und außergewöhnliche Begabung. Diese Begabung führte den 20-Jährigen 1997 an die Wiener Musikuniversität. Studienabschluss 2003. Ein Konzert mit dem Tonkünstler Orchester vor zwei Jahren brachte die Kritiker ins Schwärmen. Und die Karriere ins Rollen. 2005 debütierte Orozco-Estrada bei der styriarte, wurde bis 2008 zum Chefdirigenten des Grazer Orchesters recreation bestellt. Er liebt das energiegeladene Arbeitsklima.

"Wir wollen das beste Orchester in Graz werden. Das soll nicht arrogant klingen oder eine Kampfansage sein. Es ist meine Motivation." In zwei styriarte-Konzerten lässt er anklingen, wie weit das Vorhaben schon gediehen ist. Auch in der Heimat verfolgt er musikalische Ziele.

Ein Dirigierkurs gemeinsam mit den Philharmonikern in Bogotà gibt jungen Kollegen die Chance, Erfahrungen zu sammeln. Jüngstes Projekt: ein Festival in Bello, einem Vorort von Medellin. "Ich möchte kolumbianische Musik spielen, im klassischen Format. Ich möchte auch ein Werk in Auftrag geben."

Für die Zukunft hat er zwei Wünsche. "Ich möchte mehr Oper dirigieren und eine Stelle bei einem großen Orchester - mit allen Vor- und Nachteilen." Ein Orchester, das Tradition mit Offenheit verbindet, soll es sein. Wenn er nach den Sternen greifen könnte? "Das Concertgebouw Orchester", lächelt er. Ein Wunsch lässt sich gleich erfüllen. "Herr Ober, ein Mousse-au-chocolat-Törtchen bitte." (pch/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.6.2006)