Wer von uns denkt nicht über diesen Tag nach?", fragt Regisseur Paul Greengrass, "wer fragt sich nicht, wie es gewesen ist?" Im Doku-Drama "United 93" schildert der Brite in Echtzeit die Ereignisse an Bord und rekonstruiert die letzten Stunden der United Airlines Flug 93.

DER STANDARD: Warum macht ein Engländer in Hollywood einen 9/11-Film?
Paul Greengrass: Es ist ein Interesse, das wir weltweit alle teilen. Ich wollte einen Film zu 9/11 machen, weil heute alle wichtigen Entscheidungen davon beeinflusst sind. Ich habe das Gefühl, dass wir uns dabei von der Wirklichkeit von 9/11 zunehmend entfernen. Das hat mich angetrieben.

DER STANDARD: Es gibt die Kritik, der Film käme zu früh oder wäre prinzipiell unstatthaft.
Greengrass: Ist es nicht seltsam, dass sämtliche Medien, die in den vergangenen Jahren dieses Thema hinauf- und hinunterbehandelt haben, jetzt an diesem Film herumnörgeln. Warum soll es zu früh sein? Es ist wichtig, dass sich Kino damit beschäftigt, wie die Welt ist. Nehmen Sie nur die Filme Munich, Good Night and Good Luck oder Syriana.

DER STANDARD: Der Gegenschlag der Passagiere von Flug 93, der zum Absturz in Pennsylvania führte, aber eine größere Katastrophe in Washington verhinderte, wurde als kleiner Sieg am Tag einer fatalen Niederlage gedeutet.
Greengrass: Wenn du in einem Flugzeug bist, das gekapert wird, dann weißt du, du wirst sterben, wenn du nichts unternimmst. Und du weißt auch, dass du wahrscheinlich sterben wirst, auch wenn du etwas unternimmst. Und am Ende stirbst du tatsächlich – ist das ein Sieg?

DER STANDARD: Nein, trotzdem findet die amerikanische Öffentlichkeit diese Menschen vorbildhaft.
Greengrass: Keine Frage, dass die Geschichte von United 93 gleich nach 9/11 politisch instrumentalisiert wurde. Ich wollte diese Ereignisse aus ihrer Instrumentalisierung retten und zeigen, was geschehen ist.

DER STANDARD: Gibt es trotzdem eine politische Lesart für Ihren Film?
Greengrass: Wir haben hier ein Hightech-Flugzeug, einen hochmodernen Raum als Symbol für die heutige Welt, in dem ein verzweifelter Kampf stattfindet. Das ist ein tolles Bild dafür, wo wir heute stehen und wo wir morgen hingehen. Das habe ich auch den Schauspielern gesagt: Wenn ihr aus euren Sitzen kommt, seid ihr diese Leute im richtigen Flugzeug. Ihr agiert aus Furcht und Verzweiflung. Wenn sie vor dem Cockpit stehen und nicht gleich weiterwissen – das sind wir heute. Wenn sie dann in das Cockpit eindringen, kommt mir das vor, als wären wir das morgen, wenn wir nicht aufpassen.

DER STANDARD: Im Abspann geben Sie Informationen über den Flug 93. Ist das gegen Verschwörungstheorien gerichtet? Viele glauben, die United 93 wurde abgeschossen.
Greengrass: Die Theorien sind nachweislich nicht wahr. Dieser Irrglauben ist ein Indiz für mich, dass der Film zur richtigen Zeit kommt. Ich glaube nicht, dass es der Kultur gut tut, wenn sie im Zentrum große Verschwörungstheorien hat. Sie suggerieren uns, dass große, dunkle Kräfte heimlich unser Leben bestimmen. Die Wahrheit ist wesentlich beunruhigender. Das System ist zusammengebrochen an diesem Morgen – wegen vier Flugzeugen.

DER STANDARD: Warum haben Sie auf Stars verzichtet?
Greengrass: Filmstars haben diese ikonische Identität. Das Publikum kann Gefühle auf sie projizieren, das ergibt eine komplexe, meist befriedigende Beziehung. Diese Geschichte aber handelt von gewöhnlichen Menschen. Das geht mit Tom Cruise nicht.

DER STANDARD: Sie haben mit Angehörigen der Opfer gesprochen. Auch mit Familien der Täterseite?
Greengrass: Wir haben es versucht, es war nicht möglich. Ich habe mir alle Informationen beschafft, die es gibt. Ich wollte die vier Entführer mit derselben Glaubwürdigkeit wie die Opfer zeigen.

DER STANDARD: Ihr Film zeigt, wie hilflos die USA damals waren. Haben Sie daran gedacht, dass Ihr Film für US-Gegner eine triumphale Lesart haben könnte?
Greengrass: Ehrlich: nicht sehr. Wir haben darauf geachtet, dass die arabische Seite exakt repräsentiert wird. Die Dialoge erschließen deutlich, dass hier zwei Geiselnahmen stattfinden: Die Entführung des Flugzeugs ist nur der Ausdruck einer Geiselnahme des gesamten Islam durch eine kleine Gruppe, die den Koran selektiv gelesen hat und eine über tausend Jahre alte Tradition von Toleranz und Gerechtigkeit ignoriert.

>>>Interview mit Ben Sliney

Interview mit Ben Sliney

Es war sein erster Arbeitstag auf diesem Posten. Und er wurde zum Albtraum. Als oberster Chef der amerikanischen Flugaufsicht FAA war Ben Sliney am 11. September 2001 verantwortlich für die Sicherheit im Luftraum. Er sah, wie die vier entführten Flieger auf den Radarschirmen verschwanden.

DER STANDARD: Wie authentisch ist die Darstellung der Ereignisse?
Ben Sliney: Die Fakten und die Zeitabläufe sind genau. Die Reaktionen der Mitarbeiter im Film sind ein wenig emotionaler als damals. Ich würde bei der Arbeit nicht schreien und fluchen. Im Film mache ich das nur, weil der Regisseur es aus dramaturgischen Gründen wollte. In Wirklichkeit war ich an diesem Tag besonders ruhig, um die Atmosphäre zu entspannen – viele Mitarbeiter hatten große Sorge, dass auch wir ein Ziel der Terroristen sein könnten. Aber alles andere hat sich an diesem Tag genau so zugetragen, wie der Film es schildert.

DER STANDARD: Wie sah die Befehlskette aus? Bekamen Sie an diesem Tag Anweisungen vom Militär oder FBI, oder waren Sie allein verantwortlich?
Sliney: Die FAA, die oberste Luftaufsichtsbehörde, ist allein verantwortlich für den Luftraum über den USA. Und als deren Leiter habe ich ein nationales Flugverbot angeordnet. Das Militär hat keine Sonderrechte, es muss seine Wünsche bei der FAA anmelden.

DER STANDARD: Gilt dieses Verfahren auch bei einem Krisenfall?
Sliney: Es gab einen Notfallplan aus Zeiten des Kalten Krieges. In diesem Fall hätte das Militär Rechte bekommen, feindliche Flugzeuge zu stoppen. Diese Pläne sind seit Jahren veraltet, sie kamen 2001 nicht zur Anwendung.

DER STANDARD: Der Pilot im Film bekommt die Anweisung, die Cockpit-Tür nicht zu öffnen, weil zwei Flugzeuge in die Türme geflogen sind. Warum hat er die Tür trotzdem geöffnet?
Sliney: Diese Art von Anweisungen stammen nicht von unserer Behörde, sondern von den Fluggesellschaften. Ich kann nicht sagen, ob es diese Mitteilung tatsächlich gegeben hat.

DER STANDARD: Was ist an diesem Tag schief gelaufen?
Sliney: Wir haben versagt, weil wir auf diese Art von Angriff nicht vorbereitet waren. Der Bericht der 9/11-Kommission besagt, dass es Geheimdienstinformationen über Anschläge gab, dass man Vorkehrungen hätte treffen müssen. Das ist nicht passiert. Wir wurden nicht informiert. Wir hätten beim ersten Verdacht sofort den gesamten Flugraum gesperrt.

DER STANDARD: Hätte der Präsident den Befehl zum Abschuss des Flugzeugs gegeben?
Sliney: Vor 9/11 hätte ich mir nicht vorstellen können, dass das Militär ein Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abschießt. Jetzt wissen wir, dass derartige Interventionen notwendig sein könnten. In der Kommandozentrale haben wir heftig diskutiert, was passieren würde, als die Kampfjets sich in Richtung der United-Maschine bewegten. Man wusste, dass symbolische Objekte als Angriffsziel dienen würden.

DER STANDARD: Warum spielen Sie sich in diesem Film selbst?
Sliney: Zunächst sollte ein Schauspieler meine Rolle spielen, groß, blond, gut aussehend, wie ich (lacht). Als ich aber zu den Dreharbeiten nach London eingeladen wurde, hatte der Regisseur spontan die Idee, dass ich mich selbst im Film spielen sollte. Der Schauspieler hatte Probleme mit den technischen Terminologien der Lotsen, eine Fachsprache, die für Außenstehende immer sehr chaotisch klingt.

DER STANDARD: Kann sich ein Anschlag dieser Größenordnung wiederholen?
Sliney: Wir haben aus der Horror-Lektion gelernt. Ich glaube nicht, dass in den USA so etwas noch einmal möglich wäre. Es gibt 16.000 Lotsen, die inzwischen auf jede noch so kleine Auffälligkeit reagieren. Vor 9/11 war es nicht tragisch, wenn ein Pilot Frequenz oder Kurs änderte. Bei 45 Millionen Flügen, die wir jährlich abwickeln, gehörte das zum Alltag. Heute haben wir jeden Tag zehn Meldungen über Unstimmigkeiten. Sie entpuppten sich als harmlos, aber sie werden sofort registriert.

DER STANDARD: Arbeiten Sie noch in dieser Behörde?
Sliney: Nein. Ich bin inzwischen in New York. Es ist die gleiche Arbeit. Aber für ein sehr viel kleineres Gebiet.

(ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.6.2006)