Markus Oggenfuss

(42) ist seit 1. Jänner 2006 Generaldirektor des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé Österreich. Seit 2001 ist er Vizepräsident der Nestec in Vevey.

Ingrid Kiefer

geboren 1964 in der Steiermark, ist Ernährungswissenschafterin und arbeitet seit 1988 am Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien.

Über den Sinn angereicherter Lebensmittel diskutierte die Ernährungswissenschafterin Ingrid Kiefer mit Nestlé-Chef Markus Oggenfuss, der vom Trend des "functional food" profitiert. Andrea Fallent moderierte.

STANDARD: Functional Food, die mit Zusatzstoffen angereicherten Nahrungsmittel, sind durch die massive Werbung in aller Munde. Sind herkömmliche Nahrungsmittel nicht mehr gut genug?

Kiefer: Functional Food ist keine neue Erfindung. Das erste angereicherte Nahrungsmittel war Anfang der 20er-Jahre das jodierte Salz, das in den 60er-Jahren zum Standardprodukt gegen Jodmangel-Erscheinungen wurde. Umfragen ergeben, dass 50 Prozent der Befragten von modernem Functional Food ähnlichen Nutzen erwarten.

STANDARD: Ist zum Beispiel probiotisches Jogurt, wie in der Werbung propagiert, wirklich gut für die Verdauung?

Kiefer: Das sind Aussagen, die es in Zukunft ohne wissenschaftlichen Beweis nicht mehr geben wird. Es gibt Studien, die belegen, dass gewisse probiotische Jogurts die Darmflora positiv beeinflussen. Aber diese Ergebnisse gelten nur für bestimmte Bakterienstämme, und diese wirksamen Stämme sind nicht automatisch in allen probiotischen Produkten drin. Da kann man als Konsument in die Irre geführt werden, denn wer liest und versteht schon die auf Produkten zitierten Studien.

Oggenfuss: Bei unseren Produkten muss jeder Zusatznutzen durch wissenschaftliche Studien belegt sein. Was draufsteht, ist auch drin.

STANDARD: Was ist mit Slogans wie "Wurde beim Gesundheitsministerium eingereicht und amtlich bestätigt"?

Kiefer: Aber das heißt doch überhaupt nichts, jeder kann eine Studie einreichen und bekommt eine Eingangsbestätigung. Da ist der Konsumentenschutz gefordert.

STANDARD: Wo macht Functional Food Sinn?

Kiefer: Für sinnvoll halte ich Produkte mit Folsäure-Zusatz. Folsäure ist ein Vitamin, das nicht nur vor und während einer Schwangerschaft wichtig ist, weil es die Entwicklung von bestimmten Missbildungen verhindert, sondern auch zur Herz-Kreislauf-Prävention beiträgt. Folsäure ist einer der wenigen Stoffe, die wir nur sehr schwer in ausreichender Menge durch ausgewogene Nahrung aufnehmen können.

Oggenfuss: Sind wir doch ehrlich, wie viele Menschen ernähren sich heute noch ausgewogen? Man hat vielleicht Zeit, um Sport zu treiben, aber wer nimmt sich die Zeit, um frische Zutaten einzukaufen und zuzubereiten?

STANDARD: Ist mit Vitaminen und Mineralstoffen angereichertes Functional Food eine Alternative?

Kiefer: Es wäre nicht seriös zu sagen, dass Functional Food eine vernünftige Ernährung ersetzt. Das Problem ist aber, dass es zwar in der Bevölkerung ein ausgeprägtes Ernährungsbewusstsein gibt, aber es an der Umsetzung hapert. Wer sich an die Prinzipien der Ernährungspyramide hält, bräuchte weder Vitamintabletten noch mit Vitaminen angereichte Nahrungsmittel. Aber laut Statistik schaffen das nur ganz wenige. Und da ist es naürlich besser, man greift zu Produkten mit Zusatznutzen. Andererseits gibt es leider viele Functional-Food-Produkte, bei denen ohne haltbare Überlegungen einfach wahllos Vitamine und Mineralstoffe zugefügt sind.

Oggenfuss: Die Tendenz geht zu immer mehr Singlehaushalten, da wird wenig selbst gekocht. Und wenn sich jemand denkt, mit diesem Fertigprodukt nehme ich genauso viele Vitamine zu mir wie mit zwei Portionen frischem Brokkoli, dann ist das ein Trend, den man in der Nahrungsmittelindustrie nicht ignorieren darf.

STANDARD: Mediziner warnen aber vermehrt vor Vitaminzusätzen bei Kindern, Diabetikern und Rauchern.

Oggenfuss: Zu viele Vitamine scheidet der Körper aus.

Kiefer: Das stimmt so nicht, natürlich besteht die Gefahr der Überdosierung bei den fettlöslichen Vitaminen A, D, E, K. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass das durch Functional Food passiert, ist gering.

STANDARD: Ist nicht gerade wieder ein Bio-Boom zu verzeichnen?


Kiefer: Es gibt immer mehr gesundheitsbewusste Menschen, die auf Qualität achten. Und die Hypothesen gehen ja auch dahin, dass in Zukunft Konsumenten ihre Lebensmittel wieder pur haben möchten.

Oggenfuss: Auch wir glauben an diesen Trend und forschen daher nicht nur in Richtung Functional Food. Soeben haben wir unsere neu Überarbeiteten Produkte präsentiert, bei denen Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe wieder durch natürliche Inhaltsstoffe ersetzt wurden.

Kiefer: Wir haben ein Riesenangebot an Lebensmitteln, und natürlich müssen wir auch lernen, mit dieser Fülle umzugehen.

STANDARD: Wie sieht es mit ungesättigten Fettsäuren und sekundären Pflanzenwirkstoffen, die zugesetzt werden, aus? In ihrer natürlichen Form in Fisch oder Gemüse senken sie nachweislich den Fettgehalt im Blut und beugen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor. Wirken diese Inhaltsstoffe auch in isolierter Form?

Kiefer: Bei Vitaminen und Mineralstoffen wird schon sehr lange geforscht, da kennt man die Wirkung genau. Bei den sekundären Pflanzenstoffen sind wir noch am Anfang. Da gibt es einige wenige wie die Phytosterine, die den Cholesteringehalt im Blut senken können. Bei vielen anderen kennen wir zwar die Stoffklasse, wissen aber die passende Dosierung noch nicht.

Oggenfuss: Nestlé hat mit 700 Wissenschaftern das weltweit größte Forschungszentrum. Es dauert aber einige Jahre, bis man innovative Produkte auf den Markt bringen kann. Die jahrelange Entwicklung hat auch ihren Preis.

Kiefer: Wobei man natürlich nie sagen kann, wie viele Studien nicht publiziert werden, weil die Ergebnisse nicht vorteilhaft waren. Prinzipiell gilt, dass bei den Wirkstoffen, egal, ob sie in natürlicher Form eingenommen oder zugesetzt werden, immer eine Reihe von Einflüssen dazukommen, die den Effekt abschwächen oder verstärken können. Ein gutes Beispiel sind, wie schon erwähnt, die probiotischen Bakterienstämme, wo spezifischen Studien nicht eins zu eins übertragbar sind.

STANDARD: Das heißt aber auch, ein Konsument kann sich nicht darauf verlassen, dass der auf einem Produkt propagierte Wirkstoff überhaupt gesundheitliche Vorteile bringt?

Oggenfuss: Bei unseren Produkten schon, und wir wünschen uns, dass auch Mitbewerber veranlasst werden, Studien als Beweise für den behaupteten Nutzen von funktionellen Lebensmitteln vorzulegen.

Kiefer: Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Hier mahlen die Mühlen zwar langsam, aber es gibt Fortschritte. Durch eine neue EU-weite Regelung werden gesundheitsbezogene Werbeaussagen für Lebensmittel in der Europäischen Union künftig erheblich einschränkt. Sie sieht vor, dass Hersteller künftig Werbeaussagen, die sich auf die Gesundheit oder den Nährwert beziehen, wissenschaftlich belegen müssen. Risikobezogene Aussagen wie "reduziert Herzinfarkt-Gefahr" müssen ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Andererseits ist es auch wichtig, dass über Medien und Verbraucherorganisationen Aufklärungsarbeit geleistet wird.

STANDARD: Wie sehen Sie langfristig die Entwicklung von Functional Food? Wird ihr Anteil im Nahrungsmittelsortiment weiter zunehmen?

Kiefer: Ich glaube nicht, dass der Anteil mehr werden wird, und ich hoffe es auch nicht. Ich denke eher, dass es weniger Produkte werden, die dafür aber qualitativ hochwertig sind und bei denen gesichert ist, dass sie definitiv einen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten.

Oggenfuss: Die Ernährungsproblematik wird weiterhin aktuell sein. Deshalb arbeiten wir auch an neuen Inhaltsstoffen. Gut ist, dass die künftige EU-Regelung falsche Aussagen von unseriösen Lebensmittelerzeugern erschweren wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.05.2006)