Schöne Stoffe, schöne Menschen, wenig Lust auf Politik, Versailles aus der Perspektive von Beverly Hills: Sophie Coppolas "Marie Antoinette"

Foto: Cannes
... und wirft die Frage nach Formen der Gesellschaftskritik im Film zu Zeiten des großen Bilderverschleißes auf.


Wie jedes Jahr werden die Besucher an den Kinoeingängen gefilzt, als wären sie samt und sonders potenzielle Attentäter. Wie jedes Jahr rasen in hunderten von Filmvorführungen Milliardenbeträge an Budget durch die Projektoren. Wie jedes Jahr küren Kritiker Favoriten, haben die Paparazzi Saison. Und wie immer sitzen ein paar gelangweilt beim hundertsten Medienempfang und jeiern: "Also bis jetzt war noch nichts wirklich Besonderes dabei ...!" So funktioniert, wie man gerne sagt, das Geschäft. So funktioniert Cannes. Und wenn das Warten auf etwas "wirklich Besonderes" einmal in einem kleinen Sturm der Erregung gipfelt, dann sind alle zufrieden.

Diesen kleinen Sturm gab es am Mittwoch bei der Pressevorführung von Sofia Coppolas "Marie Antoinette": Es war ein satter, kurzer Buh-Orkan, durchsetzt mit nicht weniger inständigem, aber schnell verhallendem Applaus. Coppola, der man im vergangenen Jahr nach dem Erfolg von "Lost in Translation" 40 Millionen Dollar und eine Drehgenehmigung in Versailles gegeben hatte, weigerte sich nämlich, "ein historisches Epos, geschweige denn historische Wahrheiten" abzuliefern.

Stattdessen erzählt sie mit treuherzigem Augenaufschlag die Geschichte eines jungen Mädchens, das "von der Geschichtsschreibung viel zu lange dämonisiert" wurde, einer jungen Frau, die mit der Bürde des Reichtums und mit den gesellschaftlichen Korsetten ihrer Umgebung überfordert war, diesen aber zu genügen versuchte.

Dazu gibt's im Soundtrack Songs von New Order oder Adam and the Ants. Was man nicht sieht, das ist die wachsende Unzufriedenheit des Volkes draußen vor dem Schloss. Was man schon sieht: Jede Menge schöner Stoffe, Schuhe und Süßwaren, und dass Ludwig XVI. (Jason Schwartzman) letztlich gar nicht uneben, wenn auch verklemmt war.

Man sieht halt nur, was auch Marie Antoinette (Kirsten Dunst) sah beziehungsweise sehen wollte. Wenn jetzt Beverley-Hills-Gören, die in in ihrem Leben noch nie von illegalen mexikanischen Einwanderern gehört haben, diesen Film sehen, werden sie ganz schön gerührt sein. Ist nicht auch Paris Hilton nur ein überforderter Mensch wie wir alle?

Wenn es Sofia Coppola darum zu tun war, sich mit einer Großproduktion endgültig als eine führende Kino-Autorin zu etablieren, so hat sie definitiv den falschen Film zur falschen Zeit gemacht. Oder richtiger: schlicht gedachten US-Mainstream, der sie für die nächste Highschool- oder Modeschöpferinnen-Komödie mit Reese Witherspoon prädestinieren könnte.

Hermetik des Systems

Wirklich schaden wird ihr "Marie Antoinette" aber wohl kaum. Der französische Filmstart an diesem Wochenende verläuft angemessen fulminant. Und dass schlechte Kritiken heutzutage wenig Schaden anrichten, sieht man ja am beispiellos verrissenen Eröffnungsfilm des Festivals von Cannes, "The Da Vinci Code" und seinem Rekordstart. Liegt dies an der Hermetik eines Produktions- und Selbstinszenierungssystems, das - siehe Versailles, und darüber hätte "Marie Antoinette" durchaus prononcierter erzählen müssen - irgendwann implodiert? Wenn diese 59. Filmfestspiele eine Geschichte zu erzählen hätten, dann vielleicht diese: Zunehmend scheint den Kreativen wie auch ihren Kritikern die Fähigkeit abhanden zu kommen, konkrete Macht-und Maßverhältnisse adäquat zu benennen.

Nanni Moretti, hier mit seinem Berlusconi-Film "Il Caimano" viel diskutiert, erzählt etwa permanent darüber, wie und was man derzeit über Berlusconi nicht erzählen kann. Eine wirkliche Alternative weiß er, der etwa in den 70er-und 80er-Jahren Italien vortrefflich porträtierte, kaum noch zu bieten. Seine Kritiker hingegen finden ihn "ganz lustig" oder "engagiert" oder "nicht so gut wie sonst". Aber was hieße hier eine gesellschaftlich oder politisch relevante Auseinandersetzung? Ist Film dafür in einer Zeit des Bilderverschleißes nur noch ein bedingt adäquates Medium? Kann man mit Millionen-Dollar- oder Euro-Beträgen Kritik üben, ohne sich selbst zu verunmöglichen?

Am Unbehagen, das hier derzeit selbst an der so sonnigen Croisette viele umtreibt, mag man ermessen: Es stehen einige äußerst unerquickliche notwendige Diskussionen ins Haus. Diesen Impetus zu verstärken wäre wirklich etwas Besonderes heuer in Cannes. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26.5.2006)