Zur Person

Michail Ryklin (geb. 1948) arbeitet am Institut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er war Assistent des berühmten französischen Philosophen Jacques Derrida, lehrt an zahlreichen europäischen und amerikanischen Universitäten und veröffentlichte zuletzt bei Suhrkamp "Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz."

Foto: Standard/E. Steiner
Am Donnerstag, trifft sich die . Wie sehr man aneinander vorbeiredet, analysiert der russische Philosoph


Standard: Europa und Russland erstellen gerade ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Was sollte da Ihres Erachtens drin stehen?

Ryklin: Man wird formal drinnen alles korrekt festschreiben. Aber was sich hinter den Formeln verbirgt, bleibt die große Frage.

Standard: Soll heißen?

Ryklin: Wir erleben in den letzten Jahren hier ein permanentes Wegdriften von Europa. Da sind zwei Tendenzen: Im Konsumniveau nähert sich ein Teil (vielleicht 15 Prozent) der russischen Gesellschaft europäischen Standards an. Im kulturellen und politischen Bereich aber entfernen wir uns merklich. Fast alle Konzeptionen, die in den letzten Jahren in Russland entwickelt werden, sind gerade mit der Idee eines besonderen Weges Russlands verbunden. Da heißt es, Russland sei eine Demokratie, aber eine besondere.

Standard: Welchen Eindruck macht Ihnen Europas Dialog mit Russland?

Ryklin: Mir scheint, Russland hat erfolgreich darauf bestanden, dass der Dialog nach den russischen Definitionen geführt wird. Russland gibt seine Definition von Demokratie vor. Es sind die westlichen Medien, die bestreiten, dass Russland eine Demokratie hat. Sie verweisen auf den autoritären Regierungsstil und die Einschränkungen der Freiheiten. Die westlichen Politiker aber haben Russlands Spielregeln für den Dialog aufgegriffen. In Wirklichkeit wird dieser nicht geführt. Die ernsthaften und heiklen Fragen werden angeblich in privaten Gesprächen mit der Politelite geführt. Außerdem herrscht interessanterweise auch in Europas Politelite die Meinung, dass Russland immer schon etwas anderes war. Es besteht mit der russischen Elite ein geheimer Konsens über den besonderen Weg Russlands.

Standard: Wie erklären Sie sich die rasante Etablierung eines autoritären Systems in der Ära Putin?

Ryklin: Mehr verwundert bin ich ehrlich gesagt, wie in solch einem Land wie den USA mit seiner demokratischen Tradition die Bush-Administration so schnell den Widerstand brechen konnte bzw. ihn dort, wo er existierte, ignorierte. Bush nennt sich Kriegspräsident. Und Russland hat eine Ausnahmesituation seit dem zweiten Tschetschenienkrieg. Generell tritt in Russland all das, was in der Welt vor sich geht, in einer radikaleren Form auf. In Europa wurde wegen der Publikation der Mohammed-Karikaturen niemand verurteilt, in Russland aber eine Chefredakteurin wegen Aufwiegelung zu interreligiösem Hass verurteilt.

Standard: Wie sieht denn das Psychogramm der russischen Staatsführung aus?

Ryklin: Der besondere Weg Russlands ist praktisch zur offiziellen Ideologie geworden. Ich sehe da eine große Gefahr, weil sich das nationalistische Spektrum von Jahr zu Jahr bemerkbarer macht. Der Kreml will zwar nicht, dass auf den Straßen - wie derzeit immer öfter - Ausländer umgebracht werden. Aber indem er selbst den besonderen nationalen Weg propagiert und die Demokratie einschränkt, bekämpft er die Gefahr nicht, sondern schürt sie mit.

Standard: Man kann aber auch sagen, dass die Demokraten zu schwach oder ungeschickt waren, sich zu positionieren.

Ryklin: Die Demokraten leiteten den Staat in der dramatischsten Periode Anfang der 90er, der Zeit der Besitzumverteilung. Man hat die Demokraten auch missbraucht, um sie dann später zum Sündenpunkt für alle Verfehlungen der 90er-Jahre zu machen. Noch heute assoziiert die Mehrheit der Russen Demokratie etwa mit dem Verlust der Ersparnisse. Heute haben wir etwa ein Drittel der Bevölkerung, das für demokratische Veränderungen steht. Im Parlament sind sie nicht repräsentiert, im gleichgeschalteten Staatsfernsehen werden sie blockiert. Und ihre Stimme ist auch in Europa nicht hörbar. Das ist das Problem. Das beste Szenario wäre schon, wenn dieses Drittel bei den Wahlen nächstes Jahr in die Duma kommt.

(DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.5.2006)