Überreste des Serapis-Tempels im italienischen Pozzuoli aus der Römerzeit: Die drei mächtigen Säulen dokumentieren ein dreimaliges Auf und Ab des Mittelmeeres.

Foto: Uni Erlangen
Rom - Viele Italien-Urlauber fuhren bisher nicht nach Pozzuoli. Dabei beherbergt die Kleinstadt am Golf von Neapel bedeutende Denkmäler. Und nur auf den ersten Blick erscheinen die drei zwölf Meter hohen Marmorsäulen aus der Römerzeit unspektakulär. Man muss genau hinschauen - wie der Geologe Charles Lyell vor knapp 200 Jahren.

Vier Meter oberhalb der Säulensockel identifizierte Lyell von Muscheln hinterlassene Bohrlöcher. Sie befanden sich seinerzeit sieben Meter über dem Meeresspiegel. Lyell schloss daraus, das Meer müsse seit der Römerzeit allmählich gestiegen und wieder gefallen sein. Diese provokante These revolutionierte das naturwissenschaftliche Weltbild. Selbst Charles Darwins Evolutionstheorie gründet wesentlich auf Lyells Inspiration.

1830 erschien Lyells epochales Buch Prinzipien der Geologie. Heute, 176 Jahre später, bestätigen Forscher Charles Lyells Hypothesen - und präzisieren sie.

Die Landschaft um Pozzuoli ist geheimnisvoll. Auf den so genannten Phlegräischen (brennenden) Feldern wehen aus gelbbraunen Hügeln Schwefeldämpfe. Mancherorts schießen Fontänen heißen Wassers heraus - von einem in der Tiefe schlummernden Vulkan erhitzt.

Die Säulen von Pozzuoli

Ein noch größeres Mysterium als die vulkanischen Quellen erkannte Goethe während seiner Italienreise 1787 in den Säulen von Pozzuoli. Die Frage, warum lange Zeit Muscheln an ihnen gelebt hatten, konnte er jedoch nicht beantworten. Dass das Mittelmeer seit dem vierten Jahrhundert, als die Säulen errichtet wurden, um sieben Meter gestiegen und wieder gefallen sein könnte, war mit der damals vorherrschenden Katastrophentheorie nicht zu vereinbaren.

Der Marktplatz von Pozzuoli muss lange unter Wasser gestanden sein. Denn die Bohrlöcher, die die Muscheln hinterlassen haben, sind tief. Lyell machte eine allmähliche Senkung des Landes für die Flut verantwortlich. Als sich das Land wieder hob, habe sich das Meer zurückgezogen. Als Ursache erkannte Lyell den örtlichen Vulkan.

Lyells Idee war revolutionär: Scheinbar von Katastrophen besorgte Umgestaltungen entstehen in Wirklichkeit aufgrund steter Veränderungen: Wind und Wasser tragen Sandkorn für Sandkorn ab und graben tiefe Schluchten, und das Meer steigt allmählich und sinkt wieder. Mit einer berühmten Metapher, die Darwin an entscheidender Stelle in seinem Werk Entstehung der Arten übernahm, vergleicht Lyell die Ablagerungen der Erde mit einem Buch, in dem nur sehr wenige Seiten erhalten sind. Katastrophen eines einzigen Tages hinterließen gewöhnlich ihre Spuren, während Sedimente aus Jahrmillionen erodiert sein könnten, schrieb Lyell.

Resultat

Jetzt erhält Lyells Theorie die letzte Weihe. Forscher um Christophe Morhange von der Universität Aix-Marseille in Frankreich haben das Alter von Muschelresten an den Säulen von Pozzuoli bestimmt und herausgefunden, dass der Boden stärker in Bewegung war als gedacht: Nicht nur einmal, wie von Lyell angenommen, sondern dreimal reichte der Meeresspiegel an die Muschellöcher heran und stand damit sieben Meter höher als heute. Ihr Resultat, das die Forscher im Fachmagazin Geology präsentieren, gründet auf der Kohlenstoff-Methode: In den Muschelresten enthaltener Kohlenstoff zerfällt mit konstanter Geschwindigkeit. Indem die Wissenschafter die Menge der Zerfallsprodukte maßen, konnten sie das Alter der Schalen bestimmen.

Im Ergebnis hat sich die Magmakammer unter Pozzuoli stärker bewegt als angenommen. Ein Vulkanausbruch wäre eine Ironie der Geschichte. Die Säulen von Pozzuoli - Symbol des Gradualismus - würden bei einer Katastrophe vernichtet. (DER STANDARD, Print, 19.5.2006)