Foto: Ingi Gunnar Jóhannsson

Keine Reise verbessert bei Freunden und Bekannten das Image so sehr wie eine nach Island. Du Glücklicher, du Beneidenswerter! Alle lieben Island, obwohl es kaum jemand besucht hat. "Genieß die Geologie!", schrieb mir eine Freundin (Geologin), und mindestens vier Leute trugen mir auf, ich solle "Björk grüßen". Einer fügte hinzu: "Sie ist Gott."

Als Roman empfahl man mir "101 Reykjavík" von Hallgrímur Helgason, ein Buch über einen 30-jährigen Nichtstuer, der den Postleitzahlenbereich "101" nie verlässt und die lesbische Freundin der Mutter schwängert, welche in der Kinoverfilmung von Victoria Abril gespielt wird. Ich besorge mir die Mail-Adresse des Autors. "Let's meet at Café Segafredo on the central square Lækjatorg", schreibt Hallgrímur.

Reykjavík, 150.000-Einwohner-Stadt auf einer Insel in der Größe der DDR: klarer Himmel, bunte Häuschen in Deckfarben, finnische Kleinstadtatmosphäre. Niemand hier sieht aus wie Björk. Isländer sind Nachkommen skandinavischer Seefahrer, die vor 1100 Jahren die Insel besiedelten, welche zuerst unter norwegischer, bis 1944 unter dänischer Vorherrschaft stand.

Steineren Maske

Im Café Segafredo am Lækjatorg wartet ein breitschultriger Mann mit einem Hut über der polierten Glatze: Hallgrímur Helgason. Er erzählt, sein Name würde "Steinerne Maske" bedeuten, doch sein bewegliches Mienenspiel ironisiert seinen Namen. Der 46-Jährige lebte in Paris, München und New York, kehrte aber vor zehn Jahren zurück: "Eines Tages las ich in einer Zeitschrift, Reykjavík sei die trendigste Stadt der Welt. Und ich dachte, was tue ich hier in Paris?" Helgason filetiert in seinen Romanen und Essays die isländische Seele - und die der Touristen. "Die Natur in Island ist in Ordnung, das Problem ist nur, dass man in Island nicht draußen bleiben kann - es ist viel zu kalt. Wir Isländer haben uns damit abgefunden, die Natur durch Glas zu betrachten: durch Wohnzimmerfenster, Windschutzscheiben oder Bildschirme." Wenn Isländer an Naturtouristen vorbeifahren, versuchten sie, "immer Lacken zu erwischen, um sie zu bespritzen." Kaum ein Isländer sei je im Hochland gewesen, man höre jedoch andauernd, jemand wolle "diesen Sommer hinfahren", weil er es "im letzten Jahr nicht geschafft" habe.

Nach einer Stunde lasse ich Helgason ziehen und bereite mich auf den Freitagabend vor: die lange Nacht, in der wöchentlich die "Runtur" stattfindet, eine wilde Rundtour durch sämtliche Bars und Pubs der Stadt. Ich frage überall herum, doch niemand kann mir erklären, wieso sie dafür nicht den Samstag nehmen. Die "Kaffibarinn" quillt ab Mitternacht über - die Kneipe wurde durch Helgasons Roman und den Film berühmt.

"Hattl-Grimma" oder "Grattl-Himma"

Später erinnere ich mich vage an neue Freundschaften aus der Kaffibarinn. "Am Freitag ist Runtur, weil wir am Samstag dafür zu kaputt sind", nach dem Satz klopft mir jemand krachend auf die Schulter. Später erläutert jemand, Hallgrímur spreche man wie "Hattl-Grimma" aus. Mir gefällt, gröle ich zurück, das Buch trotzdem, der Autor möge heißen, wie er wolle, "Hattl-Grimma" oder "Grattl-Himma".

Um meine Laune zu heben, verlasse ich 101 Reykjavík - fünfzig Kilometer weiter, beim Flughafen Keflavík, befindet sich eine Hauptattraktion, die "Blaue Lagune". Milchtürkises Wasser inmitten eines Feldes schwarzer Lavabrocken, Dampfwolken steigen auf, wo Wasser aus dem Erdin-neren gepumpt wird. Durchschnittstemperatur: 38 Grad. Der Hauptreiz besteht darin, dass sich die Wasserströmungen schlecht mischen. Sie umfließen den Körper teils brennend heiß, teils kühl, jede Handbewegung ein Griff ins Ungewisse.

Mein nächster Gesprächspartner ist Kristján vom Verlagshaus Edda. Wo sollen wir uns treffen? "Eines meiner Lieblingslokale", sagt er, "wäre das Segafredo am Lækjatorg!" Okay, kenne ich schon. Er sagt nicht, was am Segafredo so toll ist, doch Kristján erklärt mir dafür das moderne Island: An der Grenze zwischen Amerika und Europa (auch geologisch, quer durch die Insel verläuft der Rift der Platten) denkt man international. Die starke Währung gefährde den Tourismus. EU-Beitritt unmöglich, weil Island auf seine Fischfanggebiete achtet und sie jetzt nicht mit gierigen Briten, Spaniern und Portugiesen teilen möchte.

Isländische Buchkultur

Das Erstaunlichste ist die isländische Buchkultur: Bücher sind das einzige legitime Weihnachtsgeschenk, Autoren wie Helgason erreichen Auflagen bis zu 10.000 Stück - in einem Land, das weniger Einwohner hat als Graz und Umgebung!

Von Reykjavík per Tagesausflug erreicht man "den Geysir", den Urvater und Namensgeber aller Geysire. Er ist altersschwach. Die Leute haben Zeug in seinen Schlund geworfen, um immer höhere Fontänen zu produzieren, bis er nicht mehr mitspielte. Daneben bricht der kleine, extrem verlässliche Geysir "Strokkur" alle sechs Minuten aus. Er gurgelt wie ein Würgeopfer, weiße Gischt zischt, ein Nebelschleier, dann legt sich der Dampf, und die nächste Runde wird vorbereitet. Ich erinnere mich, dass ich in aller Ahnungslosigkeit diversen Freunden versprochen habe, "in Geysiren zu baden", aber auf einem Schild steht Vorsicht, das Wasser habe 100 Grad. Vielleicht werde ich das daheim anders erzählen. 50 Grad, klänge das noch glaubwürdig? Ein paar Kilometer weiter das nächste Naturschauspiel: Gullfoss, der größte Wasserfall der Insel. Wasser donnert mit dem Sound eines Presslufthammers in eine Schlucht, am Himmel spiegeln sich Regenbogen, Gischt spritzt grellweiß, wie die Gletscher auf den Bergen im Hintergrund. Gullfoss durchnässt seine Besucher.

Die Apotheke

Glücklich zurück in 101 Reykjavík, besuche ich die "Apótek", das bekannteste Lokal der Stadt. Früher war es eine Apotheke, an der Wand stehen die Namen der Besitzer, von Bjarni Pálsson (1760) bis Háskóli Íslands (1982). Erstaunt frage ich die Kellnerin, wieso der letzte Besitzer so heißt. Sie meint, damit sei die Universität Islands gemeint.

Das eigentliche Rätsel der Apótek findet sich auf den Toiletten. Dort hängen Schilder, die ich, sprachunkundig, so übersetzen würde: "Meine Herren! Da die Decke nur 1,80 hoch ist, bittet die Restaurantleitung Sie, beim Urinieren einen Buckel zu machen!" Übersetzung ohne Gewähr. Das Einzige, was ich wirklich verstand, war "1,80". Die isländische Sprache ist schwerer zu lernen als Schwedisch oder Norwegisch, erklärt mir Helmut Lugmayr, Niederösterreicher, der seit 14 Jahren in Reykjavík als Übersetzer arbeitet.

Sie leitet sich aus dem mittelalterlichen Altnordisch her, das sich in der Abgeschiedenheit konserviert hat. Die Grammatik: verzwickt. Wir sitzen im Segafredo am Lækjatorg, auch Helmut scheint es hier zu gefallen. Draußen Sonne, und gleichzeitig schneit es. "In Island hat Wetter einen anderen Stellenwert", meint Helmut mit einem skeptischen Blick ins Freie. "Im Vokabular der Kontinentaleuropäer kommt der Terminus ,erfrieren' ja gar nicht vor. Aber wir haben hier immer ein Ohr am Wetterbericht. Ein Schneesturm im Hochland - kein Spaß."

Ich lehne mich zurück. Wieso treffen mich alle immer hier? Es ist doch nur ein Segafredo! Darf ich mit Kreditkarte zahlen? Die Kellnerin lacht. Helmut lacht. Es sei nämlich so, dass alle Isländer immer mit der Karte zahlen, auch kleine Beträge. "Und", mahnt mich Helmut, "gib kein Trinkgeld." Nein? "Nein", flüstert er, "nur Touristen tun so was."

"Steinsteypa"

In der größten Buchhandlung: "Steinsteypa" von Thomas Bernhard - das muss wohl "Beton" sein. "Hattl-Grimma" hat einen Roman über den einzigen isländischen Literatur-Nobelpreisträger Halldór Laxness geschrieben. "Der Dichter Islands" heißt das Buch auf Isländisch, aber auf Deutsch "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein".

Jetzt fehlt mir noch Hákarl, das ist ein Haifisch, der seit Monaten im Sand eingegraben lag. Auf dem Flohmarkt "Kolaportid" verschaffe ich mir das Fäulnisprodukt. Der erste Bissen schmeckt salzig, der Nachgeschmack: Aluminium mit Leichenteilen! Ich spucke aus. Versuche noch einen Bissen. Spucke wieder aus. Der "Haukarl", das erste Ethno-Essen, an dem ich scheitere! Muss mir überlegen, ob ich das jemandem erzählen kann. Ich gehe zum Würstelstand und esse einen Pylsur "with everything" - so gut hat selten zuvor ein Hotdog geschmeckt!

Meine letzte Gesprächspartnerin wird Bryndis Gudnadottir sein, Salesmanagerin einer Hotelkette. Sie fragt am Telefon, wo wir uns treffen sollen. Kennen Sie das Café Segafredo, am Lækjatorg?, frage ich. "Ooooh, wunderbar!", ruft Bryndis. "Das ist eine tolle Idee!" (Der Standard/rondo/19/05/2006)