Wien - Einen Autofahrerklub braucht man selten - und nur in Notfällen. Auf eine ähnliche Rolle steuert der Gewerkschaftsbund zu, glaubt Zukunftsforscher Matthias Horx: "Der ÖGB der Zukunft müsste ÖAMTC-Charakter haben, wobei die Arbeitslosigkeit der Abschleppfall wäre." Dieser Bedeutungsverlust hat für Horx mit der Bawag-Affäre nichts zu tun, sie sei schlicht ein "klassischer Korruptionsskandal". Der nötige Wandel des größten Vereins Österreichs zur Serviceorganisation liegt für Horx im Wandel der Arbeitswelt begründet: "Ich war neulich bei der Firma Infineon. Die brauchen keine Gewerkschaft, die sind selbst organisiert, da ist ein ÖGB-Funktionär ein Fremdkörper." Der Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensökonomie mache die Gewerkschaft einfach zum Teil überflüssig.

Infineon sei eine Vorzeigefirma und kein Abbild der österreichischen Arbeitswirklichkeit, konterten da erbost die Gewerkschafter auf dem Podium des STANDARD-Montagsgesprächs, das Chefredakteur Gerfried Sperl moderierte. Gerade weil Vorzeigefirmen die Ausnahme, nicht die Regel seien, brauche es eine Gewerkschaft - allerdings: eine andere als den derzeitigen krisengeschüttelten ÖGB.

Gruppenbild mit Dame zu wenig

Denn das Bild, das die Gewerkschaft derzeit bietet, charakterisierte Sandra Frauenberger, die Leiterin der Bundesfrauenabteilung der Gewerkschaft der Privatangestellten, so: "Der ÖGB vertritt den Mann, der in einem Großbetrieb Vollzeit arbeitet. Deswegen werden wir nicht als soziale Bewegung wahrgenommen, weil wir so viele Interessen nicht vertreten - etwa die von Arbeitslosen oder atypisch Beschäftigten. Dieses Bild muss sich ändern."

Dabei ist für Frauenberger ein Autofahrerklub kein Vorbild: "Das ÖAMTC-Bild greift mir zu kurz. Ich sehe im ÖGB so etwas wie eine soziale und moralische Interessenvertretung. Die neue Gewerkschaft könnte eine soziale Bewegung sein, die für Gerechtigkeit und Chancengleichheit eintritt." Dazu gehöre auch, dass die Gewerkschaft aufhöre, ein Männerverein zu sein und Frauen gleichberechtigt mitentscheiden können: "Das Gruppenbild mit Dame ist mir zu wenig."

50 Prozent Frauenanteil an der ÖGB-Spitze, das ist auch eine Forderung der ÖGB-Rebellen. Rund 3000 Menschen haben auf der Homepage www.zeichensetzen.at bisher für mehr Frauen, eine Gehaltsobergrenze für ÖGB-Funktionäre und eine Regelung, der zufolge ÖGB-Spitzenrepräsentanten nicht im Parlament sitzen dürfen, unterschrieben.

Mit der letzten Forderung kann Wilhelm Haberzettl, Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft, wenig anfangen: "Wenn Arbeitnehmer wollen, dass keine ÖGB-Funktionäre im Parlament sind, habe ich kein Problem damit. Dann aber bitte auch keine Vertreter der Industrie oder der Wirtschaft. Ich orte hier schon wieder eine Selbstzerstörungsstrategie der Arbeitnehmer. Es wäre ein fataler Fehler, das Feld freiwillig zu räumen, weil es eine exorbitante Schwächung im Bereich des Lobbyismus bedeutet."

Abgesehen von Details ist Haberzettl "heilfroh", dass es die Internetinitiative gibt. Erstens erhöhe sie den Druck für Reformen "immens", zweitens müssten Änderungsideen auch von der Basis kommen: "Man kann die Reform des ÖGB nicht der Spitze überlassen, die hat zehn Jahre bewiesen, dass sie's nicht kann." Am 23. Mai tagt die ÖGB-Reformgruppe erstmals.

Der ÖGB und die "Konfliktebene"

Er jedenfalls hat für den neuen ÖGB seine Vision: "Die klassische Arbeitnehmervertretung wird es nicht mehr geben. Die Zukunft des ÖGB ist eine politische Bewegung und eine projektbezogene Zusammenarbeit mit NGOs wie Attac oder Global 2000." Klassische ÖGB-Aufgaben wie der soziale Dialog in der Sozialpartnerschaft und Kollektivvertragsverhandlungen seien wichtig, mindestens ebenso bedeutend aber sei die "Konfliktebene": "Der ÖGB darf den politischen Konflikt nicht scheuen." Nicht zuletzt gehöre zu einem neuen ÖGB auch mehr Mitsprache der Mitglieder: "Wenn man einen starken ÖGB will, sollte der Präsident direkt gewählt werden."

Die Beteiligung von einfachen ÖGB-Mitgliedern ist für Klaudia Paiha, Vorsitzende der Grün-Alternativen Gewerkschaft, das "Um und Auf einer Reform". Denn bisher seien einfach die großen Fraktionen, SPÖ und ÖVP, viel zu dominant. Künftig müsse der ÖGB mehr "Mut zum Experiment" haben - inhaltlich und bei der Mitgliederbeteiligung.

Genosse Tycoon

Allerdings habe eine neue Interessenvertretung ein Finanzierungsproblem, gab Paiha zu bedenken: "Weltweit kann sich kaum eine Interessenvertretung über Mitgliedsbeiträge finanzieren." Unter dem Problem leide auch die katholische Kirche, assistierte Horx, wobei er fand, dass der ÖGB bei der Bawag eine Riesen-Chance vertan habe: "Man hätte ja ethisch investieren können, etwa in Mikrokredite."

Auch der ÖGB ist ein Genosse Tycoon, besitzt über Teilgewerkschaften Wohnungen - und auch Anteile am Einkaufszentrum Gasometer. Solche Geschäfte will Frauenberger überdenken: "Ich sehe das ausgesprochen kritisch. Wie soll ich Frauen im Einzelhandel vertreten - wenn wir gleichzeitig in der Situation von Arbeitgebern sind?"

Die Geschäfte der Vergangenheit waren es, die Teile der Zuhörer ärgerten: "Wie ist es möglich, dass zwei Personen Milliarden verzocken?", wollte einer wissen. "Transparenz, Mitsprache, Öffnung", könne da nur die Antwort sein, sagte ein anderer aus dem Publikum. Denn: "Im Moment werden wir einfach nicht ausreichend informiert." Für eine andere Zuhörerin ist die Aufgabe der Gewerkschaft klar: "Der ÖGB soll all jene vertreten, die sich nicht Gehör verschaffen können." Frauenberger konnte zu all dem nur nicken: "Ich brenne darauf, dass wir Reformen angehen."

Selbst Horx hielt es zu Ende der Debatte für möglich, dass vom ÖGB mehr als ein Autofahrerklub übrig bleibt: "Die Aussagen jetzt weisen darauf hin, dass die Krise reinigenden Charakter hat." Schließlich sage ein alter Sponti-Spruch: "Sinn der Organisation ist ihr Scheitern." Das gelte auch für den ÖGB - und sei gleichzeitig eine Chance: "Die Organisationen die wir gebildet haben, verblassen langsam. Die Frage ist, wie offen wir für Neues sind." (DER STANDARD, Printausgabe, 10.5.2006)