Fotos: azw
Improvisation, meinte der französische Philosoph und Begründer der Dekonstruktion, Jacques Derrida, irgendwann einmal in einem Interview, sei "nicht einfach". Im Gegenteil: "Sie ist das Schwierigste überhaupt." Denn: "Viele Vorschriften sind in unseren Köpfen, in unserer Kultur vorgeschrieben. Man ist im Grunde verpflichtet, den stereotypen Diskurs zu reproduzieren."

Improvisation ist auch ein schwieriges Thema für Architekten. Ununterbrochen werden ihre Produkte an Standards, Maßstäben, Normen, Konventionen, Schulen und Ismen gemessen. Der Diskurs schiebt alles, was neu daherkommt, sofort in Schubladen, kategorisiert, inventarisiert, vergleicht und wertet. Für Improvisation bleibt da wenig Raum.

Und auch die Rezipienten tun das Ihrige. Begriffe wie zum Beispiel "schön" sind in der Architekturkritik verpönt, weil wir Architekturmenschen alle scheint's viel zu belesen und mit historischen Fakten zugepflastert sind, um uns die Blöße geben zu können, Architektur auch anders als über Form, Funktion, Konstruktion, Materialität und "Wert" beschreiben zu können. Und in diesem Spiel sind alle irgendwie gefangen: die Bauherren, die Architekten, die Medien. Die Architektur ist bedeutungsaufgeladen wie nie zuvor.
Ob diese allgemeine Wichtigtuerei dem Bauen wirklich gut tut, sollen andere beurteilen. Doch gelegentlich tauchen Ausstellungen oder Publikationen auf, die sich um den hochkultivierten Mainstream nicht zu kümmern scheinen, die einen abseitigeren und damit erfrischenden Blick auf die Welt des Gebauten tun - und eine solche wird ab kommender Woche im Architekturzentrum Wien zu sehen sein.

Die Schau befasst sich nicht mit architekturweltbewegenden Dingen, wie etwa avantgardistischen Strömungen des internationalen Museumsbaus, sondern mit Buswartehäuschen in Estland. "STOP! Warten auf den Bus" ist eine jener Ausstellungen, die keine Antworten gibt, sondern Fragen stellt. Der junge Architekt Markus Steinmair, ihr Verfasser, formuliert die so: "Was zeichnet einen Ort aus, was macht seine Attraktivität aus? Was brauchen wir, um uns wohl zu fühlen? Wann ist ein Ort sehenswert?" Mit diesen Fragen steht nicht die Architektur im Mittelpunkt, sondern ihre Benutzer, die Menschen. Und das ist gut so.

Steinmair war im Sommer 2003 als Teilnehmer eines Kulturfestivals nach Estland gereist, dabei war ihm die Vielfalt der dort in der Landschaft oft unvermittelt herumstehenden Buswartehäuschen aufgefallen. Er begann, die teils wüsten, in jedem Fall originellen Konstrukte zu fotografieren. Schließlich verbrachte er drei Monate in Estland, reiste über Landstraßen, durch nordische Wälder, redete mit Wartenden, versuchte herauszufinden, wie diese Vielfalt der Stationen und ihre unterschiedlichsten Gestaltungsvarianten zu erklären seien.

Er brachte nicht nur an die 600 Fotos von rund 400 Bushäuschen, sondern auch viele Geschichten mit nach Hause. Eine dieser Geschichten handelt beispielsweise von einem Wartehäuschen, das sich an der Einfahrt zu einem Bauernhof befindet: Es besteht aus zwei Türen und ein paar Brettern, die miteinander den Unterstand bilden, den der Sohn der alten Bauern für seine Eltern gezimmert hat, auf dass die geschützt auf den Bus warten können.

Sigrid Hauser von der TU-Wien, bei der Steinmair über seine Wartehäuschen mittlerweile eine Diplomarbeit verfasst hat, schreibt im Vorwort des Ausstellungskatalogs (der zugleich ein Reisebegleiter durch Estland ist) über diese familiäre Haltestelle: "Angeblich hält der Bus auch an dieser privaten Stelle an, angeblich mögen die Eltern diesen Platz. Am jeweiligen Ort haben diese Bauten architektonische, landschaftliche, soziale und politische Bedeutung - im Rahmen der künstlerischen Präsentation sind sie Kunstobjekte, und als solche tragen und ertragen sie Bedeutungen unermesslicher Art."

Eine andere Geschichte handelt von einer Frau, die Steinmair auf dem Bänkchen einer Haltestelle angetroffen hatte. Die Station war in Form eines Schiffes ausgeführt. Die Frau erzählte dem zugereisten Architekten, dass sie zwar nicht mit dem Bus fahre, doch auf dem täglichen Spaziergang mit ihrem Hund hier gerne innehalte, um auszuruhen und den Blick in die Landschaft zu genießen. Früher, so meinte sie, sei das Schiff stattlich mit Anker und gläsernen Bullaugen ausgerüstet gewesen, doch die Zeit habe daran genagt, sie hätte gemeinsam mit ihrer Familie zwar gewisse Renovierungsarbeiten an der Haltestelle durchgeführt, jedoch bis zu einem neuen Anker habe man es bedauerlicherweise nicht gebracht.

Für Steinmair sind die estnischen Bushäuschen "nicht nur Haltestelle und Witterungsschutz, sondern auch soziale Treffpunkte, Informationsstelle, Anschlagtafel und Plakatwand, sie sind Postamt, Kaffeehaus, Litfaßsäule und Schlafplatz in einem." Und sie sind in einem Land, das mit rund 30 Einwohnern pro Quadratkilometer nur dünn besiedelt ist, "Identifikation stiftende Elemente in der Landschaft".

Wer hat sie gebaut? Steinmairs Recherchen ergaben, dass die meisten Häuschen aus den 70er- und 80er-Jahren stammen, also noch aus der Zeit vor der Unabhängigkeit. Gebaut wurden sie von Gemeinden und Anrainern, und zwar im besten Sinne der Improvisation. Sie sind aus jenen Baumaterialien gemacht, die eben zur Verfügung standen, und sie wurden individuell an den Ort angepasst, für den sie entstanden. Dabei nahm man Rücksicht auf die Richtung des Windes und der Sonne, auf die Aussicht und auf erforderliche luxuriöse Extras wie etwa mehrere kleine Räume für die unterschiedlichen Ansprüche der jeweils Wartenden. Ohne industrielle Vorfertigung und ohne Norm.

Noch einmal Sigrid Hauser, deren Vorwort mehr als lesenswert ist: "Erzählen uns diese Fotoserien Geschichten oder berichten sie Geschichte, präsentieren sie uns die Gegenwart oder verweisen sie auf die Zukunft? Das Foto als Dokument bezeugt, dass die Architektur jedenfalls da gewesen ist. (. . .) Außerhalb des Bildes geschieht Bewegung, Veränderung, Verlust. Etwas von dieser Unwiederbringlichkeit erinnert uns an unsere Stationen auf unseren Wegen, an diese Orte, in denen wir auf unserer alltäglichen Jagd nach der vorauseilenden Zeit stehen bleiben, anhalten, warten müssen. Wir haben Geschichte erlebt, sagen die Bauten auf diesen Fotos, wir können viele Geschichten erzählen."

Und das ist etwas, was der zeitgenössischen Architektur oftmals auf mysteriöse Weise fehlt - wahrscheinlich gerade weil sie sich so sehr darum bemüht. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.5.2006)