Umstrittene Rekonstruktion einer Familiengeschichte: Eva Weissweilers "Die Freuds". (Foto: Buchcover)

Eva Weissweiler, Verfasserin des Buches "Die Freuds. Biographie einer Familie", erklärte unlängst im "Salzburger Nachtstudio" (Ö 1, 26.4.) zum Thema "Freud und die Frauen" Folgendes: "Freud war es wichtiger, seine Kunstsammlung zu retten, als seine vier alten Schwestern, die in der Folge in Konzentrationslagern umkamen. Und dies, obwohl Freud doch schon von KZs gehört haben musste ..."

Nicht nur, dass einem der Atem stockt bei solch anscheinend mit Leichtigkeit hingeworfenen Phrasen (auch in ihrem Buch werden, abgesehen von Anna Freud, die als "Gralshüterin" bezeichnet wird, seine Schwestern, seine anderen Kinder und speziell natürlich seine Ehefrau Martha und andere Frauen seiner Umgebung als "schattenhafte Figuren" beschrieben, von Freud dazu benutzt, ihm die "Misere des Alltags vom Leib zu halten") - es löst bei mir auch fassungsloses Erstaunen aus, wenn eine Autorin mit so viel historischer Ignoranz und pseudofeministischem K(r)ampf zu Werke geht, um den angeblich bis dahin vernachlässigten "Familienroman" richtig darzustellen. Macht sich nicht hier, rechtzeitig zu Freuds 150. Geburtstag, eine neue Form des Freud-Bashings breit, camoufliert von der Frauenfrage, um Freud nur ja als Sexisten und Macho darzustellen?

Abgesehen davon, Anna Freud hat keinen "Gral" gehütet - sie trug wesentlich zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse bei, indem sie sich der Erforschung des "Ich" und der Kinderanalyse widmete. Sie hielt jedoch, da die Analyse, meiner Ansicht nach, eine empirische Wissenschaft ist, zu Recht daran fest, dass Letztere etwas mit dem Unbewussten, dem Widerstand und der Übertragung zu tun hat.

1988 fand in Wien, veranstaltet von der Sigmund-Freud-Gesellschaft, gemeinsam mit der Association Internationale d'Histoire de la Psychoanalyse, ein Kongress zum Thema "Sigmund Freud - neue Studien und Dokumente" statt. H. Leupold-Löwenthal hielt damals einen Vortrag: "Die Vertreibung der Familie Freud 1938", wobei er, anhand von Aktenstücken des Wiener Rechtsanwaltes Dr. Alfred Indra, der Sigmund Freud 1938 vertreten hatte, folgende, bis dahin unbekannte Fakten, darstellen konnte:

Hoffnung enttäuscht

Dr. Alfred Indra bemühte sich, am 20.5.1938 eine Befreiung von der "Reichsfluchtsteuer" zu erreichen, wobei der Antrag "mit Rücksicht darauf, dass die Staatspolizei und andere Reichsstellen ohnehin über das inländische Vermögen Prof. Freud verfügen ..." abgelehnt wurde. Am 4.6.1938 waren somit 31.329 RM "Reichsfluchtsteuer" zu entrichten (ca. 90.000 €). Freuds Sammlung ägyptischer und asiatischer Kunstwerke konnte tatsächlich nach England transferiert werden, wobei sich 1962 herausstellte, dass er als Abgabe an die deutsche Golddiskontbank am 11.4.1939 RM 35.300 (ca. 110.000 €) und am 30.1.1939 RM 4963 (ca. 14.000 €) überwiesen hatte.

Freud schrieb am 12. November 1938 an Marie Bonaparte (Prinzessin von Griechenland, die ihm bei der Flucht behilflich war), er hoffe - da er befürchte müsse, dass das Vermögen, das er bei seinem Abschied den Schwestern hinterlassen habe, entweder bereits konfisziert ist oder bei der Abreise verloren gehen könnte -, die alten Damen an die französische Riviera bringen zu können. Es war allerdings nicht möglich.

Tatsächlich hatte Freud ab den Dreißigerjahren einen kleinen Fonds aus Wertpapieren geschaffen, deren Erträge den Lebensunterhalt der Schwestern sichern sollte. Zusammen mit etwa 15.000 RM Bargeld wurde ihnen dieses Wertpapierdepot (insgesamt ca. 160.000 S, heute rund 280.000 €) 1938 übergeben. Durch die so genannte JUVA ("Judenvermögensabgabe") als "Sühneleistung" nach dem Pogrom 1938 ("Reichskristallnacht") schmolz das Geld aber dahin. Ein Steuerrückstand von 22 RM (!) konnte 1942 nicht mehr bezahlt werden - der Ausreise war damit ein Riegel vorgeschoben.

Adolfine Freud ist in Theresienstadt umgekommen, Marie Freud und Pauline Winternitz wurden in das Vernichtungslager Maly Trostinec transportiert, und Rosa Graf wurde nach Treblinka verschickt.

Frau Weissweiler - wie viele andere, die über diese Zeit schreiben - und natürlich auch ich selbst waren nicht dabei. Wir wissen nichts, bzw. wir haben nicht die Angst und Hilflosigkeit der alten, an ihrer Umgebung hängenden Schwestern gespürt, die sich womöglich nicht vorstellen konnten, dass sie ihren Verbleib in Wien mit dem Tod werden bezahlen müssen.

Freud war nicht allmächtig. Juden mussten zahlen, um ausreisen zu können. Ihn dafür zu verunglimpfen, als "Täter" hinzustellen und - weil ein Mann, ein Chauvinist - dafür verantwortlich zu machen, die wirksam abgestufte behördliche Vertreibung und Vernichtung seiner Schwestern nicht verhindert zu haben - ist das nicht pure Verdrehung und Verleugnung geschichtlicher Tatsachen? (DER STANDARD, Print, 5.5.2006)