Alejandro Escovedo: "The Boxing Mirror" (EMI)

Foto: EMI
Alejandro Escovedo veröffentlicht nach langer, schwerer Krankheit das Album "The Boxing Mirror". Eine Aufarbeitung, pendelnd zwischen Todesnähe und Lebensfreude.


"Have another drink on me, I've been empty since Arizona." So beginnt das Rekonvaleszenzalbum von Alejandro Escovedo und, weil es sowieso ausgesprochen werden muss, es ist groß! Ein Meisterwerk! Punkt. In Zeiten von sich wie blöd verkaufenden Alben mit Ästhetiken und Sounds, die nicht einmal noch selbst erfunden, sondern trotz prinzipiell herrschender Vielfalt nur monothematische Renaissance und Revival sind, ragt ein Album wie The Boxing Mirror von Alejandro Escovedo wie ein Fels aus dem Strom des Gleichklangs. Anders gesagt: Mit dem Ideenreichtum, der hier verarbeitet wird, bestreiten andere Künstler ganze Karrieren - bestenfalls. Dabei ist The Boxing Mirror ein doppeltes Wunder.

Neben seiner künstlerischen Qualität grenzt es an ein solches, dass der 1951 in San Antonio, Texas, geborene Escovedo es überhaupt aufnehmen konnte. Der mit Hepatitis C infizierte Künstler brach im April 2003 nach einem Konzert in Phoenix, Arizona, zusammen und schwebte lange Zeit in Lebensgefahr. Nachdem Escovedo unversichert war, beschlossen befreundete Künstler und Verehrer, für ihn ein Tri- bute-Album aufzunehmen, dessen Erlös seine Behandlung finanzieren sollte. Das Ergebnis war die Doppel-CD Por Vida (2004), auf der Größen wie Steve Earle, Jon Langford & Sally Timms, Calexico, Howie Gelb, Son Volt, Charlie Musselwhite, The Minus 5, die Cowboy Junkies, John Cale und andere mehr mit Songs von oder für Escovedo ihren Teil zur Genesung des bis dahin den feuchtfröhlichen Rock'n'Roll-Lebensstil führenden Musikers leisteten.

John Cale war es nun auch, der The Boxing Mirror mit Escovedo produzierte. Der Cale'sche Einfluss ist dem Album anzumerken. Die originäre Eleganz des Openers Arizona, mit der Escovedo die Zeit seit seinem Zusammenbruch aufzuarbeiten beginnt, trägt ebenso die Handschrift des Wallisers wie die kammermusikalisch anmutenden Streicher in Dearhead On The Wall. So unterschiedlich die Stücke sind, die emotionale Schwere und Tiefe nimmt einen sofort ein. Das bleibt so. Egal, ob Escovedo, ein Onkel der Rapperin Sheila E., ein paar ungestüme Rocker wie Break This Time oder das fast schon punkige Sacramento & Polk dazwischenschiebt oder mit The Ladder ein weidwundes Tex-Mex-Gstanzl schmachtet. Wie Escovedo hier Souveränität und Tiefgang vereint - ein Traum!

Aus einer 14-köpfigen Familie stammend - der Vater war Preisboxer, ein Bruder spielte bei Santana in der Band - gründete er in den 70ern in San Francisco die Punk-Band The Nuns. Später ging er nach New York und trat als Trabant der No-Wave-Szene in Erscheinung. Damals traf der Velvet-Underground-Verehrer erstmals mit einem verdrogten John Cale zusammen. In den 80ern half Escovedo mit Rank and File das Genre Cow Punk mitzuerfinden, gründete bald die diesbezüglich etwas traditioneller ausgerichteten True Believers und war 1992 maßgeblich an der Depressions-Supergroup The Setters beteiligt. Im selben Jahr begann seine Solokarriere, die ihm bis heute mehr Ruhm als Geld einbrachte - More Miles Than Money, wie er eines seiner Alben nannte. Immerhin vergrößert er seitdem beständig seine eingeschworene Fangemeinde.

The Boxing Mirror sollte das auch gelingen. Locker! Die pathosfreie, einnehmende Interpretation des mit zart nasalem Gesang Vortragenden transportiert in jedem einzelnen Song dieses Albums mehr Gefühl als, sagen wir, das Gesamtwerk von U2. Der unpeinliche Umgang mit den Ereignissen rund um seine Krankheit, die er nun einigermaßen im Griff hat, sind herzergreifend. Die Übersetzung in feinfühlig instrumentierte und arrangierte Stücke ohne Tand und Ballast tut das Übrige. John Cale: "Alejandro Escovedo is a rare genius." Mit Verlaub - abgesehen von Andy Warhol - über wie viele Menschen hat sich ein John Cale in seinem Leben ähnlich positiv geäußert? Eben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.5.2006)