Vertov brachte das menschliche Sehen an seine technischen Grenzen - auch wenn Mehrfachbelichtungen doch immer nur ein Bild ergeben: Plakat zu "Der Mann mit der Kamera".

Repro: STANDARD/Newald
Wien - Glasnost und Perestroika - das waren die Begriffe, die den Untergang der Sowjetunion einleiteten. In dem Wort Glasnost ließ Michail Gorbatschow noch einmal die Hoffnungen anklingen, die der Kommunismus nicht erfüllt hat - eine dynamische, offene Gesellschaft, mit revolutionären Werktätigen in einer großen produktiven Bewegung, an der auch die Künstler ihren Anteil hatten.

Der Filmkünstler Dziga Vertov (1896-1954) sprach vom "Kino-Auge" (Kino-Glaz), um seine engagierte Zeitgenossenschaft theoretisch auszuformulieren - und ihren technischen Charakter zu betonen. Als er 1918 im neu gegründeten Komitee für Wochenschauen zu arbeiten begann, kam er nicht umhin, den Alltag abzubilden. Er musste die Arbeiter und die Kader der Partei filmen und sah dabei nicht selten noch den "trottenden Bürger", wo er doch lieber den "perfekten elektrischen Menschen" erblickt hätte.

Auch sein Konzept der "Kino-Wahrheit" (Kino-Pravda) entstand aus dem Widerstand gegen die Kontingenz dessen, was ihm vor die Kamera kam: das "überrumpelte Leben" erscheint in seiner Montage in einem höheren Zusammenhang aufgehoben, dessen Modernität gerade in der Gleichrichtung vieler durcheinanderlaufender Bewegung bestand. In Der Mann mit der Kamera (1929) brachte Vertov das menschliche Sehen an seine technischen Grenzen - auch wenn Mehrfachbelichtungen doch immer nur ein Bild ergeben.

Für den Kollegen Sergej Eisenstein war Vertov ein Impressionist, der Kunst um der Kunst willen machte. Für den Formalisten Viktor Sklovskij ein Symbolist, der seine Einstellungen so aneinanderreihte, dass sie wie "rote Verse mit Filmreimen" wirkten. Die Kritiker trugen ihm nach, dass Vertov sich von den Anforderungen der politischen Gegenwart um seine Ideen für einen absoluten Film geprellt fühlen mochte.

Sein erster Tonfilm Entuziazm erwies sich dann als Versuch über die Planwirtschaft selbst. Die zentralistische Ordnung der Arbeit, der Produktionsprozess als große Partitur (oder Montage), wird in den vier Kapiteln dieser "Symphonie aus dem Donbass", dem Zentrum der ukrainischen Schwerindustrie, bekräftigt und zugleich in den komplizierten Verknüpfungen zwischen Bild und Ton hinterfragt.

Entuziazm ist die praktische Form eines Tonfilm-Manifests. Es beginnt mit einem Kuckucksruf, der jedoch nicht nur den Frühling der Natur ankündigt, sondern auch eine neue Zeit der medialen Wahrnehmung. Eine junge Frau setzt sich auf eine Bank unter einem blühenden Baum. Sie lauscht nun aber nicht den Vögeln, sondern setzt sich Kopfhörer auf und hört eine Sendung von Radio Leningrad. Die Gesellschaft ist bereits auf technische Weise integriert. Der Fünfjahresplan beginnt mit verordneter "Gottlosigkeit", er verläuft über die Rohstoffgewinnung in den Schächten der Bergwerke zur Eisen- und Stahlherstellung in den Hochöfen und endet mit einer Erntesequenz wieder in der Natur.

Die Filmwissenschafterin Oksana Bulgakowa zitiert einen Augenzeugen aus dem Jahr 1930, der eine Tonvorführung in Leningrad erlebte: "In dem dunklen Zuschauerraum leuchtete das Rechteck der Leinwand jungfräulich weiß. Doch keiner interessierte sich für die Leinwand. Faul und melodisch dröhnten die Glocken, festlich sang der Kirchenchor, in der Kneipe polterte etwas, jemand wurde geschlagen, und als in der Symphonie dieses trunkenen Skandals deutlich ein traditionelles russisches Schimpfwort erklang, verschwanden alle Zweifel an dem dokumentarischen Charakter des gefilmten Materials. Wir sahen eine Originaltonaufnahme."

Die Debatten innerhalb des sowjetischen Kinos betrafen in erster Linie die Frage der Synchronität von Bild und Ton. Vertov nahm dabei eine offene Position ein. Er bestand nicht auf einer prinzipiellen Asynchronität, wie sie Eisenstein proklamiert hatte. Er ließ beide Möglichkeiten zu. In Wiegenlied (1937), seiner Hymne auf Stalin, wird der Diktator durch eine schmeichelnde Melodie (und durch entsprechende Bilder, auf denen Stalin ein gewinnendes Lächeln zeigt und Babys herzt) vermenschlicht.

Auch in Wiegenlied steht nicht das einzelne Motiv im Zentrum, sondern der ganze Film ist als Bewegung des sowjetischen Riesenreichs auf sein Zentrum hin orchestriert. Ein Sechstel der Erde umfasste die Sowjetunion einmal, wie ein berühmter Filmtitel von Dziga Vertov stolz verkündet. Diesem Land hielt er die Treue - auch dann noch, als es von seiner Kunst schon nichts mehr wissen wollte. Kein Diktator konnte das Kino-Auge gefangen setzen. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.5.2006)