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Manchmal hat Hauptmann Bellodi, Kommandant der Carabinieri-Kompanie in C., Tagträume: von Parma, von jungen Frauen, die durch die flache Landschaft der Emilia radeln. Denn er tut Dienst in Sizilien, aber er ist kein Sizilianer. Er gehört nicht zu den Kommissaren, die zugleich Fremdenführer durch die Stadt sind, in der sie ermitteln. Er ist selber der Fremde, ein Beamter aus dem Norden, und er weiß, was das bedeutet.

Er kennt sich aus in der sizilianischen Literatur, bis hin zum "Leoparden". Er weiß, dass der Staat, den er repräsentiert, hier ebenfalls ein Fremder ist, der aus dem Norden kommt und misstrauisch beäugt wird. Ein Mann ist erschossen worden, dunkel gekleidet, eine Aktenmappe in der Hand, morgens um halb sieben, als er gerade auf der Piazza Garibaldi den Autobus nach Palermo besteigen wollte. Der Mörder floh durch die Via Cavour. Dem Hauptmann kann nicht entgehen, dass der Tatort, wie zum Hohn, die Namen der Heroen des Risorgimento trägt, Männer aus dem Norden wie er. Der Tote war Vorsitzender einer Baugenossenschaft, und wo öffentliche Bauaufträge zu vergeben sind, ist die Mafia nicht weit.

Der Sizilianer Leonardo Sciascia, geboren 1921 in dem kleinen Ort Racalmuto nördlich von Agrigent, gestorben 1989 in Palermo, hat es seinem Hauptmann aus dem Norden sehr schwer gemacht. Nicht nur, weil alle, die etwas wissen oder gesehen haben, schweigen und der wichtigste Zeuge ermordet wird, nicht nur, weil Aussagen widerrufen, Alibis gefälscht werden. Sondern vor allem, weil es den Gegner offiziell gar nicht gibt. Die Mafia, sagt man ihm, ist ein Vorurteil aus dem Norden. Die anonymen Stimmen von Geschäftsleuten und Politikern aus Rom, die den Roman durchziehen, beobachten mit Argwohn, wie Bellodi ihren Partnern im Süden auf die Spur kommt. In einer Parlamentssitzung über die Morde in Sizilien bekräftigt die Regierung ausdrücklich, es handele sich dabei um gewöhnliche Kriminalität.

Bellodi wird den Fall aufklären. Es wird eine machtlose Aufklärung sein, ohne Anklageerhebung. Aber der Leser dieses schmalen Romans wird die Täter kennen und das Buch mit der Gewissheit aus der Hand legen, dass die Mafia existiert. "Der Tag der Eule", 1961 erschienen, noch geprägt von der Nachkriegszeit, ist das Urmodell aller Mafia- Krimis. Leonardo Sciascia hat die Illusionsspiele Pirandellos und die Labyrinthe von Borges in seinen Roman einfließen lassen. Aber zugleich erhält darin die Mafia ein Gesicht, wird zum greifbaren Gegenstand, auch wenn sie sich dem Gesetz entzieht.

1962 gab es die erste parlamentarische Untersuchungskommission über die Mafia. Später tauchten Minister mit Mafia-Verbindungen, wie es sie in Sciascias Roman schon gab, in Zeitungen und Gerichtssälen auf. Alberto dalla Chiesa, der 1982 ermordete Präfekt von Palermo, auch er Carabinieri-Chef aus dem Norden, erinnerte manche Leser an Sciascias Hauptmann Bellodi. Und wie kürzlich die Verhaftung von Bernardo Provenzano zeigte, ist der Landgeruch um die Mafiabosse immer noch nicht verflogen. (DER STANDARD, Printausgabe vom 4.5.2006)