Schirrmachers Tante braucht einen guten Onkel: Robin Williams liefert dafür in "Mrs. Doubtfire" ein Vorbild.
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... und ihre sogenannte Natur und sozialen Kompetenzen ausbeuten. Für diese fantastischen Ansprüche ist jedoch kein Platz mehr.

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Jede/r kennt sie angeblich, die "sich in der Familie aufopfernde, zeitlebens unver- heiratete Tante, aber niemand kennt einen Onkel, der Gleiches getan hätte". Das kann doch kein Zufall sein! Es muss sich um die unterschiedliche "Natur" von Mann und Frau handeln. Das behauptet jedenfalls Frank Schirrmacher, Autor und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in seinem neuen Buch "Minimum".

Schirrmacher macht sich Sorgen über die schrumpfenden Gesellschaften Europas und um "die Familie". Die "Biologie" müsse wieder mehr gehört, verstanden und akzeptiert werden. Und diese Biologie weise den Frauen nun einmal mehr soziale Kompetenz zu als Männern. "Soziales Bewusstsein bleibt lebenslang ungleich verteilt." Und zwar, laut Schirrmacher, nicht zwischen FAZ-Herausgebern und anderen - hier würde man ihm ja gerne zustimmen -, sondern zwischen Onkeln und Tanten, Vätern und Müttern, kurz, zwischen Männern und Frauen.

Heute, in der "Krise des Wohlfahrtsstaates", brauche es diese "Vorteile der Frau" wieder mehr denn je. Die "sozialen Kompetenzen" seien nicht nur in der Familie lebensnotwendig, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. "Frauen werden im nächsten Jahrzehnt unglaublich wichtig. Es wird ein Riesendruck auf sie entstehen. Sie müssen arbeiten, Kinder kriegen und es stellt sich für sie die Frage: Was tue ich mit meinen alten Eltern?" So Schirrmacher im STANDARD vom 28. März.

Damit nicht genug. Auch die für die menschliche Sozialisation und die Allgemeinheit notwendigen Voraussetzungen, wie Fürsorge, Achtsamkeit, Bezogenheit oder Solidarität sollen laut Schirrmacher von den Frauen bereitgestellt werden, und nur von ihnen. "Bei Männern funktioniert das eben nicht." Große Aufgaben also, die uns Frauen zugewiesen werden. Vorweg: Wir wollen sie nicht.

Perfide Argumente

Die Argumentation ist perfide. Kein Zweifel, dass in unserer Kultur Wärme, Vertrauen und Rücksichtnahme abhanden kommen. Kein Zweifel, dass wir das brauchen. Aber Schirrmacher nimmt die gesellschaftliche Zerstörung von Solidarität und Mitmenschlichkeit nicht nur passiv hin, sondern betreibt sie in einem Leitorgan des deutschen Neoliberalismus auch aktiv mit. Abschieben will er dann die Bereitstellung dieser tatsächlich lebensnotwendigen "Werte" allein in das Private, in die Familien, dorthin, wo seiner "Analyse" nach die soziale Kompetenz der Frauen zu Hause ist, und sei es nur die der unverheirateten Tanten.

Zugegeben, die Familie und das Private sind andere Systeme als das Öffentliche, die Ökonomie oder das Politische. Aber es sind keine isolierten Systeme. Die Familie, laut Schirrmacher sind das immer die Frauen, kann nicht unentwegt Wärme, Solidarität und Geborgenheit bereitstellen, wenn rundherum der Rücksichtslosigkeit, dem Egoismus und einer brutalen Ökonomisierung gehuldigt werden. "Geiz ist geil" und selbstlose Fürsorge passen nun einmal nicht zusammen.

Gelten in der öffentlichen Sphäre vor allem die Regeln des Marktes, werden Gemeinschaftlichkeit, Fürsorge und Empathie auf den privaten Bereich verwiesen. Die Frau und Mutter wird damit für Beziehungsstrukturen verantwortlich gemacht, die denen des öffentlichen Lebens diametral entgegenstehen. Diesen Widerspruch wollen Frauen nicht länger kitten und lösen. Die sinkenden Geburtenzahlen sprechen für sich.

Schirrmacher legt mit seinem vorgeblichen Lobgesang auf die sozialen Kompetenzen der Frauen Leimruten aus. Er sorgt sich keine Zeile lang, wie es um all die Frauen und Mütter wirklich steht, an deren Verantwortung er appelliert. Wie sollen Frauen ihre hoch gelobten sozialen "Tugenden" gesellschaftlich leisten, wenn sie ihnen selbst immer weniger bereitgestellt werden? Wenn sie stattdessen tagtäglich Missachtung, Ausbeutung, Zynismus nicht nur selbst erleben, sondern zusätzlich auch über die Medien ständig mit der Missachtung, Ausbeutung, Verfolgung und Rechtlosigkeit von anderen Frauen konfrontiert sind.

Einige aktuelle Beispiele? Der Unterschied im Bruttogehalt zwischen unselbständig beschäftigten Frauen und Männern hat inzwischen ein Höchstmaß von über 40 Prozent erreicht und steigt weiter. 571.000 Frauen in Österreich leben unter der Armutsgrenze. 31 Prozent der Alleinerzieherinnen leben in akuter Armut. Frauen werden überproportional in deregulierte Arbeitsverhältnisse ohne vollen Versicherungsschutz abgedrängt. 10 Prozent aller Beschäftigten haben trotz Arbeit kein existenzsicherndes Einkommen, 72 Prozent davon sind Frauen. Die Pensionsreformen verlängern den Durchrechnungszeitraum so, dass Frauen ohne durchgängige Erwerbsbiografie zu den größten Verliererinnen zählen.

Gibt es Kritik an diesen Entwicklungen in der FAZ? Oder werden sie dort nicht mit den Schlagworten "Flexibilisierung" und "notwendige Reformen" weiter herbei geschrieben? Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch andere Nachrichten über Frauen und Männer blenden Schirrmacher und Co. aus ihrem notwendigen "Ursystem von Erfahrungen", sobald es Frauen betrifft, aus.

Dazu gehört eben auch alltäglich Negatives. Etwa, dass anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, einem männlichen Ereignis, bis zu 40.000 Prostituierte aus aller Welt angekarrt werden müssen. Das Geschäft soll unter anderem in mobilen "Verrichtungsboxen" vonstatten gehen. An anderer Stelle war über die Verhaftung von Schleppern zu lesen, die minderjährige Mädchen von Rumänien nach Österreich schleusten. Die Kinder wurden geschlagen und vergewaltigt, um sie so für österreichische Bordelle, also für die ganz normalen österreichischen Männer, "zuzurichten".

Die Liste der Missachtung wäre noch lang. Auch alte Männer wie Udo Jürgens fielen einem ein, der sich in Interviews darüber auslässt, wie wenig er mit Frauen über 40 erotisch noch anzufangen weiß und wie man sich ihrer entledigt. Er spricht damit ja nicht nur für sich selbst, sondern für einen gesellschaftlichen Zustand, der für Frauen Stress bedeutet.

Bereits ausgelaugt

Die "moderne" Frau steht unter vielfältigem Druck. Psychische und physische Erschöpfung sind die Folge. Frauen leiden häufiger unter Depressionen, Angst-, Zwang-und Essstörungen als Männer. Besonders von Depressionen betroffen sind jene Frauen, die als Partnerinnen, Hausfrauen und Mütter ihre "sozialen Kompetenzen" ausleben müssen. Sie sind in Wahrheit bereits ausgelaugt.

Für Schirrmachers fantastische Ansprüche ist kein Platz mehr. Es geht bei der Erhöhung der Geburtenrate und dem "Neuentstehen unserer Gemeinschaft" nicht nur um die viel strapazierte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das greift zu kurz. Es geht darum, dass die so genannte "Natur" der Frau, von Schirrmacher - stellvertretend für ein gesamtes überholtes Gesellschaftsverständnis - nicht länger parasitär ausgebeutet wird. Die tatsächlich lebensnotwendigen Tugenden, die Schirrmacher exklusiv den Frauen zuweist, müssen sich auch die Männer aneignen. Sie müssen zu Leitgedanken nicht nur des Privaten, sondern auch des Öffentlichen, Ökonomischen und Politischen werden.

Schirrmachers brave häusliche Tante braucht einen guten Onkel. Frauen in den industrialisierten Ländern können selbst bestimmen, ob sie Kinder in die Welt setzen. Sie tun es nur, wenn die Bedingungen im obigen Sinn stimmen. Tun sie es nicht, werden wir weiter schrumpfen. Aber dafür sind dann nicht die Frauen verantwortlich. (DER STANDARD, Printausgabe 30.03.2006)