Wien – Das Französisch, das die Damen und Herren des Wiener Radiosymphonieorchesters spielen, verdient allen Respekt. Bei einem aus Paris gebürtigen Lehrmeister, den sie in ihrem Chefdirigenten Bertrand de Billy nun schon seit vier Jahren haben, ist das nicht weiter verwunderlich.

Doch bloße stilistische Geläufigkeit in Sachen französischer Musik wäre für die Wiedergabe von Claude Debussys Ibéria (Images für Orchester Nr. 2) noch zu wenig. Denn um alle hinter dem vordergründigen spanischen Jargon verborgenen thematischen Andeutungen fühlbar zu machen und all die vibrierenden Farben dieser ins Akustische verlagerten Schule des Sehens schimmern und leuchten zu lassen, bedarf es wohl auch einer überdurchschnittlichen technischen und auch geistigen Präsenz.

Dass die RSO-Leute über diese gegenwärtig in einem Ausmaß verfügen, das an die besten Zeiten dieses Orchesters seit Milan Horvats Zeiten Ende der 60er-Jahre erinnert, kam auch der österreichischen Erstaufführung der vor zwei Jahren im Auftrag der Berliner Philharmoniker entstandenen und unter Simon Rattle uraufgeführten Correspondances für Sopran und Orchester von Henri Dutilleux zugute.

Dieses auf Brieftexten von Alexander Solschenizyn und Vincent van Gogh sowie auf Gedichten des indischen Autors Prithwindra Mukherjee und Rainer Maria Rilke basierende Werk erschließt sich dem Hörer schon schwerer.

Der labyrinthische Charakter dieser von Laura Aikin mit großer Präzision vorgetragenen Orchesterdramolette geht auf einen von Dutilleux zunächst erstellten zentralen Plan zurück, in dem sämtliche Entwicklungsphasen des Werkes fast immer omnipräsent sind. Vergangenes und Künftiges verschränken sich zu einer Gegenwärtigkeit voll ständig changierender Stimmungen.

Ähnlich wie in Johann Nepomuk Davids Schaffen wird auch im Werk von Dutilleux, diesem stilistisch freilich auf ganz anderen Pfaden wandelnden Einzelgänger der französischen Moderne, das Bauhüttengeheimnis zum für den Hörer zwar unergründlichen zentralen Gestaltungselement.

Dass solch anspruchsvolle Vieldeutigkeit ihre Wirkung nicht verfehlt, wurde dem 90- jährigen Meister durch den jubelnden Beifall des Publikums hinlänglich bewiesen.

Im Vergleich dazu erschien die dritte Symphonie von Camille Saint-Sa¨ens in ihrer wohl prägnanten, aber stets unverbindlich bleibenden Thematik eher schal. Bei aller Präzision und trotz oder wegen der in der Dynamik vielleicht etwas zu kräftigen Mühewaltung von Thomas Daniel Schlee an der Orgel wirkte‑ dieses Werk überwiegend‑ wie ein dröhnend verallgemeinerndes Mischmasch von Klassik und Romantik. (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.3.2006)