Tintenfischalarm

Elisabeth Scharang und Alex Jürgen auf Selbstfindungtrip
Tintenfischalarm
"Ich war mir bewusst, dass ich anfangen musste, mich so zu akzeptieren, wie ich war: Als Nicht-Mann und Nicht-Frau," sagt Alex Jürgen im Gespräch mit die Standard.at. Er ist Hauptdarsteller des Dokumentarfilms "Tintenfischalarm" von Elisabeth Scharang und intersexuell – ein Zwitter. Der Film wurde im Rahmen der Diagonale in Graz uraufgeführt.

Weil das Kind mit nicht eindeutigem Geschlecht geboren wurde, nannten Alex' Eltern es vorerst einmal Jürgen, hatte es doch Hoden und einen Penis – wenn auch unterentwickelt. Später entschieden sich die Eltern, auf Anraten der ÄrztInnen, das Kind doch zu einem Mädchen zu machen. "In den meisten Fällen entscheidet man sich für das weibliche Geschlecht", meint Intersex-Spezialist Ludwig Wildt von der Uniklinik Innsbruck. Weil es technisch einfacher sei. Was er nicht sagt, ist, dass sich 15 Prozent der Intersexuellen, die ein Geschlecht zugewiesen bekommen, eine Revision wünschen; mehr als ein Viertel begeht, laut Statistik, Selbstmord. Mediziner Wildt bezweifelt diese Zahlen und fügt hinzu: "Für die Kinder ist es meist besser, sie bekommen ein eindeutiges Geschlecht." Die meisten würden sich auch damit identifizieren.

Penis amputiert

In Alex' Fall war es nicht so: Im Alter von sechs Jahren wurden dem Kind die Hoden entfernt, mit zehn Jahren amputierten die ÄrztInnen ihm den Penis. Und dann mit 15 der Höhepunkt: eine echte Vagina! Das dachte Alexandra damals – sie wollte einfach dazugehören, so sein wie die anderen. Aber es kam anders; die ÄrztInnen rieten dem frischgebackenen "normalen Mädchen" mindestens drei Mal die Woche Sex zu haben, oder die künstliche Vagina müsse jede Nacht mit einem so genannten Phantom gedehnt werden. Ein Plastikstück, erklärt Alex im Film, das an den Kanten einschneidet und extrem unangenehm sei: "Als Intersexueller hast du von Haus aus viel zu verheimlichen, das Phantom macht es nicht gerade leichter." Tintenfischalarm nannte Alexandra damals die stressigen Situationen, in denen Burschen versuchten, sie zu begrapschen. Durch die Operationen wurden sämtliche Nerven zerstört, Alex hat keine sexuellen Empfindungen – außer im Kopf.

Die Filmemacherin und FM4-Jugendzimmer-Interviewerin Elisabeth Scharang begleitete Alex über drei Jahre lang auf einem Selbstfindungstrip – vom holländischen Wattmeer an die kalifornische Küste. Nach einem Selbstmordversuch und nachdem er eine Krebserkrankung überlebt hatte, wollte Alex endlich Schluss machen mit der Selbstzerstörung. Deshalb der Film, und weil er damit zeigen will, dass eine Operation nicht das Allheilmittel ist – in den meisten Fällen ganz im Gegenteil.

"Das ist, wie wenn Du einem Fremden den Arsch zeigen musst." Mit diesen Worten erklärt Alex am Anfang des Films, warum er nicht mit seinen Eltern über das Thema sprechen will. Im Film zeigt er noch viel intimere Seiten von sich, die den Zuschauern unter die Haut und zwischen die Beine fahren, wo Alex heute noch Schmerzen hat und wo ihm heute noch etwas fehlt. "Ich hoffe nur, dass es mich nicht eines Tages umbringt, dass ich keinen Schwanz habe." Denn auch wenn Alex sich, unabhängig vom Geschlecht, als Mensch fühlt, wollte er doch keine Frau sein. "Was blieb mir da anderes übrig, als ein Mann zu werden?"

"Without any Brust"

Während des Films beginnt Alex eine Hormonkur, schluckt Testosteron, doch ein Bart will ihm bis heute nicht wachsen. Immer dabei Elisabeth Scharang, die zu Beginn des Films die Kameragrenze überschreitet und selbst Teil des Films wird – in den Gesprächen mit Alex, in denen sie ihm auch widerspricht oder Ratschläge erteilt. Die Regisseurin zu dieStandard.at: "Es wirkt nicht so abgehoben, wenn der Regisseur selbst vor die Kamera tritt. Da stelle ich manchmal nicht so gescheite Fragen und bleibe nicht so abstrakt." Dadurch und weil, laut Scharang, Alex den Dokumentarfilm abgesegnet hat, kommt zu keinem Zeitpunkt der Sozialporno-Verdacht auf.

"Tintenfischalarm" ist viel mehr die Geschichte einer Identitätssuche in einer Welt, die nur zweidimensional denkt: Entweder Frau oder Mann. Alex: "In der Natur lobt man die Vielfalt, doch bei Menschen darf sie nicht sein." Schließlich komme ja auch keiner auf die Idee, einer Schnecke nachzurennen und sie umzuoperieren, nur weil sie ein Zwitter ist. Auch wenn es im Film humorvolle Szenen gibt – zum Beispiel, wenn Alex nach seiner Brustamputation verkündet: "Without any Brust" und seine BHs über einem Lagerfeuer brät –, überwiegt doch das Bild eines verzweifelten Menschen, der darunter leidet, dass er halt "einfach ein wengerl dazwischen" ist. Damit das nicht so bleibt, tritt Alex vor die Kamera, und um Intersex-Kindern sein Schicksal zu ersparen. Das ist mutig und für Alex eine teilweise zermürbende Konfrontation mit sich selbst: "Wie wenn du ein Modell 24 Stunden mit einem Spiegel im selben Raum lässt." Von Alex' Bereitschaft auszupacken und seiner intensiven Sprache und Geschichte lebt Scharangs Film.