Schnappschuss des Standard-Reporters: eine der Todesschwadronen, die in Bagdad Jagd auf Sunniten machen.

Drei Jahre nach Beginn der US-geführten Invasion im Irak scheint ein offener Bürgerkrieg nur noch eine Frage der Zeit. Die diplomatischen Bemühungen konzentrieren sich auf eine stabilisierende Rolle des Iran.

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Der Universitätsprofessor Salim Khalaf verlässt jeden Morgen kurz nach fünf Uhr sein Haus im Westen von Bagdad, um zur Al-Mustansiriyah-Universität zu fahren. Dort beginnt seine Vorlesung um neun Uhr. Er fährt so früh in die nur 30 Minuten entfernt Uni, weil es um diese Zeit in Bagdad noch einigermaßen sicher ist. "Achtzig Prozent der Bombenanschläge und Selbstmordattentate werden zwischen sieben und elf Uhr verübt. Um diese Zeit gehen Regierungsbeamte, Polizisten und die Politiker in ihre Büros. Da wurden bisher die meisten Opfer von den Terroristen getötet", sagt der Englischprofessor. Nur durch die frühe Zeit kann er das hohe Risiko auf dem täglichen Weg zur Arbeit reduzieren.

Terror im Stundentakt

In Bagdad explodieren täglich, manchmal im Stundentakt Sprengsätze und Bomben. Scharfschützen schießen jeden Tag auf Menschen. Im Schnitt gibt es 65 Tode täglich. Seine zwei Kinder lässt der Professor seit drei Monate nicht mehr in die Schule gehen. Es ist ihm zu gefährlich. Außer den Bombenanschlägen und Schießereien ist das Risiko einer Entführung extrem groß. Pro Tag werden in Bagdad im Durchschnitt 50 Menschen verschleppt. Es ist eine regelrechte Industrie geworden. Kriminelle und Widerständler arbeiten Hand in Hand. Da die Polizei so gut wie ausfällt, herrscht weitgehend Anarchie.

Drei Jahre, nachdem US-Präsident George W. Bush die erste Bombe auf den Irak werfen lies, steht das Land, zusätzlich zu der katastrophalen Sicherheitslage, kurz vor einem Bürgerkrieg. Schiitische Killerkommandos machen immer häufiger Jagd auf Sunniten, um sich für Terroranschläge zu rächen. Die Polizei ist machtlos. So wie die Wahlen das Land noch mehr unter seinen religiösen Gruppen aufgespaltet haben, droht es jetzt zu einem Bruderkrieg zu kommen.

In Stadtteilen, in denen überwiegend Schiiten wohnen, werden die Todesschwadronen immer mehr zum normalen Bestandteil des Straßenbildes. Die Sunniten, die im Bagdader Stadtteil Kadhamiya wohnen, sind dem Terror Tag für Tag ausgesetzt. Die schwarzen Männer schießen wahllos in ihre Häuser und Innenhöfe. Manchmal geben sie den Bewohnern eines Hauses fünf Minuten, um es mit der Familie zu verlassen, und zünden es dann an. Sunniten werden so gezielt aus den Stadtteilen vertrieben, in denen überwiegend Schiiten wohnen. Oder sie werden einfach vor ihren Nachbarn erschossen.

Die "ethnische Säuberung" ist laut einem UNO-Bericht bereits weit fortgeschritten in der Sechs-Millionen-Stadt Bagdad. Ijad Allawi, irakischer Expremier, sagte dem englischen Sender BBC: "Wenn die Zustände im Irak kein Bürgkrieg sind, was ist dann Bürgerkrieg?"

Niemand kann die Todesschwadronen stoppen. Sechs Stadtteile hat der Terror bereits erfasst. Die Polizei hat man in diesen Sektoren seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Sunniten haben vor den Männern in Schwarz inzwischen mehr Angst als vor den täglichen Bombenanschlägen.

Die Todesschwadronen sind gut organisiert. Möglicherweise handelt es sich bei den Männern teilweise um Truppen des Innenministeriums, die sich verselbstständigt haben. Der Ministerialbeamte Kamal Hussein sagte, die Männer in Schwarz handelten nicht auf Befehl des Ministers. Doch Noch-Innenminister Bajan Bakr Solagh hat die Behörde längst nicht mehr unter Kontrolle. Weil nach der Wahl am 15. Dezember immer noch keine neue Regierung gebildet wurde, entstand dadurch in einigen Ministerien ein regelrechtes Machtvakuum.

General Raschid Flajih ist Kommandeur der Truppen des von den Schiiten geführten Innenministeriums. Sie sind nach seinen Angaben von der irakischen Armee unabhängig. Die Existenz der schwarzen Todesschwadronen bestreitet er nicht. Er bezeichnet sie sogar euphemistisch als "Field Intelligence Units" - was so viel bedeutet wie "Geheimdienstmitarbeiter im Außeneinsatz".

Sunniten rüsten auf

Auf Seite der Sunniten sieht es nicht anders aus. In ihren Stadtteilen wird ebenfalls kräftig aufgerüstet. Nachdem letzte Woche einige ihrer Moscheen zerstört wurden, haben sich die sunnitischen Milizen verstärkt, meist mit ehemaligen Soldaten. Hilfe und Unterstützung kommt aus den Gebieten um Ramadi und Falluja. Große Mengen Waffen und Kämpfer sollen schon in Bagdad eingetroffen sein.

Und so schwindet die staatliche Autorität immer mehr - jeder nimmt sein eigenes Schicksal selbst in die Hand. Jede Partei und noch so kleine Organisation hat ihre eigene Miliz. Das Gesetz gibt jedem Iraker das Recht, in seinem Haus eine Kalaschnikow zu haben. Selbst der US-Botschafter im Irak, Zalmay Khalilzad, sagte kürzlich, mit dem Sturz von Saddam Hussein hätten die USA und ihre Verbündeten im Irak eine "Büchse der Pandora" geöffnet. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.03.2006)