Als "verinnerlichtes Bild" verharre so das Ideal der klassischen Kleinfamilie mit Eltern und mehreren Kindern in der Psyche der Menschen, obwohl diese "alte Form" des Zusammenlebens - nicht zuletzt unter dem Druck der Ökonomie - an ihre Grenzen gestoßen sei. Ein Widerspruch, der die Jetztzeit für manche PessimistIn und KulturkritikerIn zu einem klammen, von Niedergangsbefürchtungen durchzuckten Zwischenreich macht. "Es ist leichter, zu spüren, dass etwas nicht passt als zu spüren, wo die Lösungen sein könnten."
Diese - so Aull - könnten zum Beispiel in "mehr kollektiver Verantwortung" liegen, mit dem Ziel einer kinderfreundlicheren Gesellschaft. Zwar hätten sich "krass kollektivistische, etwa sozialistische Erziehungsmodelle" als nicht zielführend herausgestellt, doch dies nehme das Allgemeinwesen keineswegs aus der Pflicht. Wer jetzt in neoliberalen Zeiten stattdessen erwarte, dass BürgerInnen und Familien ganz allein imstande seien, grundlegende Prinzipien wie "Vertrauen, Uneigennützigkeit, Altruismus und Solidarität" (Frank Schirrmacher) zu schaffen und zu verbreiten, irre gewaltig: "Es geht immer um wirtschaftliche und machtpolitische Entscheidungen."
Beziehungsverantwortung
Auch das einzelne Kind werde diese Werte nur hochhalten lernen, wenn es "in einer Welt aufwachsen darf, die auf solche Beziehungsverantwortung Wert legt", betont die 48-jährige Psychoanalytikerin. Das fange in Kindergärten und Schulen an, die für die zunehmende Zahl von Einzelkindern eine sehr wichtige Rolle spielten: um Gruppenerfahrungen zu machen und so "das familiäre Umfeld zu ergänzen".
In diesem Sinne nimmt die Psychotherapeutin auch ihre eigene Zunft nicht aus der Pflicht. Einseitig kleinfamilienbezogene Ansichten, die etwa die Mutter - und nur sie allein - als exklusive Bezugsperson von Kindern sehen, existierten in der Kollegenschaft weiterhin. Doch die moderne Säuglingsforschung zeige, "dass eine Kleinkind Kontinuität in der Beziehung braucht, aber nicht unbedingt von einer einzigen, weiblichen Person".