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Es gibt Kinderromane, die klingen noch lange nach. Peter Härtlings "Hirbel" gehört dazu. Woran mag das liegen? Vielleicht weil es ein so traurig-schönes Buch ist und zugleich eins, über das man lachen kann. In diesem schmalen Bändchen sind auf eine zarte und zurückhaltende, ja poetische Weise Töne angeschlagen, die man auch mit schriller Stimme intonieren kann.

Denn es geht um Probleme wie Krankheit, Behinderung und Heimerziehung. Die kindliche Hauptfigur, Hirbel, leidet wegen Komplikationen bei der Geburt unter anhaltendem Kopfschmerz. Nach kurzen Aufenthalten bei Pflegeeltern tritt er seine Odyssee durch verschiedene Heime an. Auf den ersten Blick handelt es sich also um ein Problembuch.

Und als der Text 1973 erschien, da brach er in der Tat mit einer Reihe von Tabus, denn es war nicht üblich, in der Kinderliteratur über kindliches Leid zu erzählen. Peter Härtling wollte sich damals mit solchen Verhältnissen nicht abfinden. "Es kann thematisch keine Tabus für Kinder geben", so hat er später seine Motivation beschrieben. Und weil das so ist, wurde sein "Hirbel" zu einem Trendsetter für eine moderne Kinderliteratur.

Was macht den "Hirbel" auch heute noch lesenswert, in einer Zeit, da frühere Tabubereiche wie Scheidung, Arbeitslosigkeit, Dritte Welt, Krankheit oder Tod längst zum Gegenstand von literarischer Darstellung für junge Leser geworden sind?

Es ist die Art und Weise, wie Härtling diese Geschichte erzählt. "Der Hirbel ist der schlimmste von allen, sagten die Kinder im Heim", so beginnt der Text. Und es folgt umgehend der Satz: "Das war nicht wahr." Bereits mit diesem Anfang sind die Sympathien ebenso klar verteilt wie die Aufgabe, vor der der Autor-Erzähler steht. Er weiß mehr als andere. Weil Hirbel nicht für sich selbst sprechen kann, tritt der Erzähler als Kommentator und Anwalt des Kindes auf. Unmerklich gerät man dabei immer tiefer in die Geschichte.

Hirbel wird nicht als eine Art Figurentyp entworfen. Im Gegenteil, er ist trotz seiner Handikaps eine kleine Persönlichkeit, eine Individualität, die ernst genommen werden will und sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzt. Humorvolle Passagen dämpfen zudem die Härte des Erzählten ab, sie tragen einmal mehr zur Identifikation der kindlichen Leser bei und ermöglichen eine sensible Sichtweise.

Dennoch findet die Geschichte kein Happyend, sie bleibt offen. Und das ist gut so! Daran ändert auch das Nachwort für Kinder nichts, in dem sich der Autor direkt einmischt, Partei für seine Figur ergreift und aufklärt. In tausenden von Leserbriefen haben Kinder an Peter Härtling Vorschläge für einen Schluss unterbreitet. Hirbel ist so etwas wie ein "Identifikationswunder".

Aber was gibt es Schöneres, wenn Autor und Leser auf diese Weise miteinander im Bunde sind? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.3.2006)