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Austreibung eines eingebildeten Störenfrieds: Andri (Florian Teichtmeister) wird von Andorranern gepeinigt (Martin Bermoser, li., und Erich Altenkopf).

Foto: APA/Trierenberg
Wien - Das Stück Andorra des großen Schweizer Identitätslehrmeisters Max Frisch ist eine überzeugende Theaterstellprobe des überlegen skeptischen Verstandes. In ihm steht mit dicker Theaterfarbe auf hastig zusammengezimmerten Kleinstadt-Pressholzwänden geschrieben: Ihr sollt den anderen in eurer Mitte kein Mal auf die Stirn drücken! Wir aufgeklärten Staatsbürger produzieren das Gefühl unseres Zusammenhalts, indem wir keifend mit dem Finger auf den vermeintlich "anderen" hinzeigen! Ist es noch so? Bezieht die schrille Aggressivität heutiger Überfremdungsdemagogen ihren Schrecken nicht gerade aus der begründeten Einsicht, dass man in den europäischen Ballungsräumen um keinen Preis der Welt mehr eine ethnisch "unvermischte" Identität behaupten kann, ohne sich lächerlich zu machen?

Sehr pädagogisch

Frischs Argumentation der "klaren" Unterscheidung, anno 1961 von unabweisbarer Überzeugungskraft, markiert in der sehr schulpädagogischen, sehr holzschnittartigen Andorra-Produktion des Josefstadt-Theaters (Regie: Peter Lotschak) die Grenzen eines theaterhistorisch überkommenen Modells. Denn der heranwachsende, wohlstandskorrekte, überfließend charmante Andri (Florian Teichtmeister), den sie aufgrund einer Herkunftslüge des sich moralisch schief getrunken habenden Lehrervaters (Toni Slama) als "Jud'" durch die Kleinstadtkulissen von "Andorra" mobben, um ihn schlussendlich an genozitäre Besatzer preiszugeben - er würde heute alles andere tun, als einem Schultheatersoldaten aus dem Statistenlehrbuch (Martin Bermoser) die Mütze vom Kopf zu schlagen.

Er würde sich vielleicht gemeinschaftlich organisieren wollen. Würde ein Internetforum einrichten, eine HipHop-Band gründen, Sprayer werden - oder den Andorranern die auf Kreditbasis erstandenen Gebrauchtautos unter den Hintern anzünden. Im Josefstadt-Theater, wo teilweise brav, manches Mal sogar herzzerreißend gespielt wird (Gerti Drassl als Andris Halbschwester Barblin), kratzt ein perspektivisch verjüngter Industriewolkenkratzer, von Bühnenbildnerin Susanne Thaler possierlich an den Horizont gemalt, am falschen Himmel.

Davor stehen "geweißelte" Wände, durch die auch das Spiel dieser kleinbürgerlich verhuschten Halsabschneider jeder Tiefe, jeder Notwendigkeit entbehrt. Das sprüht vor Pappendeckel und knistert wie Jausenbrotzellophan. Wäre da nicht ein Toni Böhm, der seinen andorranischen Arzt als zigarilloschwenkende Hochstaplernummer in die wahnhafte Vernunftmitte gesellschaftlicher Dummschwätzerei mitten hineinstellt. Eine Drassl, die aus dem Wahnsinn des geschändeten Mädchens eine Heiligenlegende bastelt: mit Kratzbürstenscheuern am missbrauchten, aber wie entrückten Leib. Daneben: Chargen aus dem Geist der Heuchelaufklärung, ein Priester (Siegfried Walther) als nuntial krähender Scham- und Schandschweißtropfen. Theateralltagsmenschen von damals eben. Und ganz allmählich geht hinter dem Lehrstück die tiefstehende Abendsonne unter. (DER STANDARD, Printausgabe, 04./05.03.2006)