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Wenn ich ein Buch lese, ist es eigentlich weniger ein Lesen als ein Hören, besser gesagt ein Hineinhören in einen Roman. Ich stelle mir die Stimmung, den Klang eines Buches vor. Ich will wissen wohin die Reise geht, ist der Text Dur oder Moll, wechseln die Rhythmen, swingt es, gibt es eine Leitmelodie? In Andreas Steinhöfels "Die Mitte der Welt" fasziniert von Anfang ein geheimnisvolles Moll- Thema, eine rätselhafte, verführerische Melancholie.

Der vaterlose Phil ist der Ich-Erzähler dieser Geschichte. Er ist ein Fragender auf der Suche nach seiner Identität, seiner chaotischen Familiengeschichte. Von Beginn an stellen sich Fragen, deren Antworten sich ganz langsam im Laufe der Erzählung ergeben. Wer ist diese junge, schwangere Frau, die mit einem Schiff von Amerika nach Deutschland will und nicht, wie es sonst die übliche Emigrationsgeschichte ist, von der alten in die junge Welt? Was will dieses junge Mädchen mit dem merkwürdigen Namen "Glass" in einer kleinen Stadt irgendwo in Deutschland? Wir werden die Beweggründe nie genau erfahren.

Die Bewohner oder wie Phil sie beschreibt, "die kleinen Leute" kommen aus "der jenseitigen Welt". Jedenfalls will Glass zu ihrer Schwester, die dort ein Haus besitzt, das auf den englischen Namen "Visible" (Sichtbar) getauft wurde. Visible passt oder gehört genauso wenig in dieses provinzielle Städtchen wie unsere späteren Helden, die im Grunde immer nur die Zugereisten, die Fremden bleiben. Glass wird ihre Schwester nie antreffen, denn sie ist aus dem Fenster gefallen. Glass wird kurz nach ihrer Ankunft Diane und Phil gebären. Diese Zwillingsgeschwister sind so unterschiedlich, werden sich emotional verlieren und am Ende wundersam wieder zueinander finden.

Die Mitte der Welt ist ein Initiationsroman, eine traurig schöne Liebes- und Familiengeschichte, ein Coming Out Abenteuer. Phil ist auf der Suche nach seinem Vater, nach Liebe, Sicherheit und nach seiner Sexualität. Und mit Phils Augen erfahren wir etwas über diese merkwürdigen Steinhöfelschen Charaktere und ihr Leben als Außenseiter. Immer ist die Liebe des Autors zu seinen Romanfiguren, die Neugier auf ihre Andersartigkeit spürbar. Andreas Steinhöfel zieht mit seinen wunderbaren poetischen Beschreibungen den Leser immer tiefer in deren Leben hinein. Er schildert das Erwachsenwerden als aufregendes Abenteuer, er lässt uns durch die Augen seines Protagonisten an der Suche nach Glück, Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Hunger nach Liebe teilnehmen.

Phil wird am Ende in die Heimat seiner Mutter zurückkehren. Ob er seinen verschollen geglaubten Vater finden wird, erfahren wir nicht, aber wir träumen weiter und hoffen auf eine Fortsetzung dieses rätselhaften Märchens, wir wollen mehr hören von dieser Ballade. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.2.2006)