Konjunkturexperte Marterbauer plädiert für eine größere Bedeutung der Beschäftigungs­politik in der EU: "Langfristig ist klar, dass eine so eng verflochtene Wirtschaft wie die europäische nur erfolgreich sein kann, wenn wir ein stärkeres Europa haben."

Um steigenden Arbeitslosenquoten und dem stagnierenden Wachstum zu begegnen, haben sich die Staats- und Regierugschefs im Jahr 2000 auf die so genannte "Lissabon-Strategie" geeinigt. Sie wurde inzwischen mehrfach adaptiert, beim kommenden Frühlingsgipfel soll sie erneut auf der Tagesordnung stehen. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt Wirtschaftsforscher Markus Marterbauer vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) positive Elemente sowie Schwachpunkte der Strategie, warum er die skandinavischen Länder "eindeutig als Vorbildländer" sieht und wie eine Senkung der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit erreicht werden könnte.

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derStandard.at: Die EU-Kommission hat sich eine "Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung" auf die Fahnen geheftet. Auf welche Maßnahmen setzt die EU da und wie sind diese zu bewerten?

Markus Marterbauer: Der Lissabon-Prozess ist in diesem Zusammenhang eines der positiven Elemente der EU-Politik. Das Problem ist nur, dass das Ziel der Vollbeschäftigung in den konkreten wirtschaftspolitischen Handlungen anderen Bereichen untergeordnet ist. Ob in der Budget- oder Geldpolitik: Man kann überall erkennen, dass andere Ziele im Vordergrund stehen.

derStandard.at: In letzter Zeit bekennen sich Politiker vermehrt zum sozialen Europa. Sehen Sie auch in der Praxis Bestrebungen, dass die EU hier mehr Kompetenzen bekommt?

Marterbauer: Der Lissabon-Prozess ist sehr breit: Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von Wirtschaftsreformen, wo Deregulierung im Vordergrund steht, über Investitionen in technologische Innovationen und in die Umwelt bis hin zur Beschäftigungspolitik. Die verschiedenen Länder haben hier je nach politischen Präferenzen unterschiedliche Zugänge: Die skandinavischen Länder etwa setzen auf hohe Beschäftigungsquoten etwa bei Frauen, andere Länder wiederum greifen sich Maßnahmen zur Deregulierung und Unternehmensförderung heraus.

Dennoch waren die letzten fünf Jahre der EU-Beschäftigungs- und Sozialpolitik sehr enttäuschend: Der Beschäftigungspolitik wurde nicht der vorrangige Stellenwert eingeräumt, den sie haben sollte, und die Zusammenarbeit der Mitgliedsländer auf EU-Ebene funktioniert nicht ausreichend.

Langfristig ist klar, dass eine so eng verflochtene Wirtschaft wie die europäische nur erfolgreich sein kann, wenn die Kooperation auf europäischer Ebene funktioniert, also eigentlich wenn wir ein stärkeres Europa haben. In wirtschaftspolitischer Hinsicht gibt es aber nur wenig Anzeichen dafür.

derStandard.at: Länder wie Dänemark, Schweden oder Großbritannien haben eine gute wirtschaftliche Entwicklung und weisen hohe Beschäftigungsquoten auf. Wie haben sie das geschafft bzw. was könnte man EU- weit daraus lernen?

Marterbauer: Vorbildländer bei der Beschäftigungspolitik sind meiner Ansicht nach eindeutig die skandinavischen Länder: Es ist ihnen gelungen, die Beschäftigungsquoten von Frauen, MigrantInnen und älteren Arbeitskräften deutlich zu erhöhen. Den Hintergrund dafür bildet die viel höhere Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen in den Bereichen Betreuung, Pflege, Gesundheit, Bildung. Die Skandinavier sind auch in der Qualifizierungspolitik für Arbeitslose deutlich besser als wir. Schließlich stehen die skandinavischen Länder für einen Wohlfahrtsstaat, der gut ausgebaut ist und dennoch auf technologische Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit setzt.

Interessant ist, dass auch Großbritannien in den vergangenen fünf Jahren sehr erfolgreich war: Auch die Labour-Regierung hat auf öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung gesetzt und die Steuerquoten massiv erhöht, um diese Investitionen sowie eine Umverteilung zu Gunsten der unteren Einkommensschichten zu finanzieren.

derStandard.at: Es wesentliches Problem auf dem Arbeitsmarkt ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Was sind Ursachen für diese Entwicklung?

Marterbauer: Zum Einen spiegelt sich in der Jugendarbeitslosigkeit die generelle Arbeitsmarktsituation wider. Dazu kommt, dass noch immer die Zahl der Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren steigt, während die Arbeitsplätze fehlen.

Österreich ist ja eines der Länder, in denen die Jugendarbeitslosigkeit besonders stark gestiegen ist. Wir sind zwar vom Niveau her noch in einer relativ günstigen Situation, allerdings hat sich die Arbeitslosenquote von Jugendlichen in den letzten fünf Jahren nahezu verdoppelt. Ein besonderes Problem ist, dass viele der 20 bis 24-Jährigen nur einen Pflichtschulabschluss haben - dies ist bei Burschen, vor allem aber bei Mädchen mit Migrationshintergrund ein zunehmendes Problem.

derStandard.at: Wie könnte man dem begegnen?

Marterbauer: Ein wichtiges Instrument ist die Ausbildung. Eines der zentralen Probleme ist, dass wir viel zu wenige Weiterbildungsmöglichkeiten für junge Menschen und zu wenige Qualifizierungmaßnahmen für Arbeitslose anbieten.

Es bräuchte mehr Investitionen im Schul- und Weiterbildungsbereich, bessere Förderungen für betreibsübergreifende Lehr-Projekte, Ausbildungs- und Beschäftigungsgarantien für Jugendliche. All dies schafft zwar noch keine Arbeitsplätze, aber es verbessert zumindest die Situation der einzelnen Betroffenen.

derStandard.at: Ein Ziel der Lissabon-Strategie ist die Erhöhung der Frauenerwerbsquote. Wie soll dies funktionieren, so lange es nicht mehr Arbeitsplätze gibt?

Marterbauer: Ich halte die Erhöhung der Frauenbeschäftigungsquote für eines der zentralen Projekte, die eine vernünftige Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verfolgen sollte. Erstens ganz klar aus empanzipatorischen Gründen. Frauenbeschäftigung ist aber auch ein zentrales Instrument, um Armut - insbesondere bei Kindern - zu verhindern. Es gibt hier einen eindeutigen Zusammenhang: In europäischen Ländern mit hoher Frauenerwerbsquote gibt es keine Kinderarmut, während Länder mit niedriger Frauenerwerbsquote von Kinderarmut gekennzeichnet sind.

Zudem besteht ein erhebliches Armutsrisiko für Frauen, insbesondere im Alter: Durch die Reformen der öffentlichen Pensionssysteme werden Frauen, die nicht lang genug erwerbstätig waren, mit dem Phänomen Armut im Alter konfrontiert sein - ein Phänomen, das wir bisher in Österreich überhaupt nicht kannten, weil das Pensionssystem sehr gut war. Je mehr Beschäftigungsjahre man allerdings braucht, um auf eine vernünftige Pension zu kommen, desto wichtiger wird eine hohe Frauenerwerbstätigkeit sein.

derStandard.at: Österreich soll die Lissabon-Ziele in dieser Hinsicht bereits erreicht haben?

Marterbauer: Österreich ist hier entgegen den offiziellen Zahlen nicht besonders erfolgreich. Wir überschreiten in der Frauenbeschäftigung zwar das 60-Prozent-Ziel für 2010, allerdings primär dadurch, dass wir Frauen, die vor der Karenz oder dem Kinderbetreuungsgeld beschäftigt waren, weiterhin als beschäftigt zählen. Sonst würden wir unter dem Ziel der EU liegen und weit hinter den skandinavischen Ländern, die eine Frauenerwerbsquote von über 70 Prozent haben.

derStandard.at: Teilzeitbeschäftigung wird gerade für Frauen als positives Arbeitszeitmodell genannt, weil es eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie ermöglicht. Wie sehen Sie das?

Marterbauer: Teilzeitbeschäftigung kann auf jeden Fall ein positives Element sein, etwa wegen der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Allerdings darf sie nicht zu Armut führen, wie dies in Österreich oft der Fall ist: Teilzeitbeschäftigte Frauen haben in Österreich sehr niedrige Einkommen, wodurch das Problem von working-poor entsteht.

Ursache dafür sind mangelnde Kinderbetreuungseinrichtungen. Teilzeitbeschäftigte Frauen in Österreich arbeiten mit durchschnittlich 20 Stunden pro Woche deutlich weniger als in den skandinavischen Ländern: Dort sind es 30 Stunden pro Woche, was auch ein merklich höheres Einkommen bedeutet. Dazu kommt, dass die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen in skandinavischen Ländern viel geringer sind als bei uns. Schließlich ist auch der Sozialstaat, der dahinter steht, viel besser.

derStandard.at: Wäre Grundsicherung eine Lösung für dieses Problem?

Marterbauer: Der Wohlfahrtstaat ist an sich eine Art Grundsicherung und ich würde den Wohlfahrtstaat auf keinen Fall zugunsten eines anderen Modells wie zum Beispiel einer allgemeinen Grundsicherung aufgeben wollen.

Er muss aber dort ergänzt werden, wo er nicht mehr ausreichend greift. Vor allem müsste er weniger auf Transfers und mehr auf öffentliche Dienstleistungen orientiert sein, wie dies in den skandinavischen Ländern der Fall ist. In Österreich gibt es zum Beispiel in der Familienförderung sehr hohe Geldtransfers, aber zu wenig Kinderbetreuungseinrichtungen.

derStandard.at: In der Lissabon-Strategie wird die Reform der sozialen Sicherungssysteme gefordert. Gewerkschaften und Arbeiterkammer warnen davor, dass damit eigentlich der Abbau von sozialen Standards gemeint sei. Ein nötiges Opfer zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen?

Marterbauer: Ich glaube nicht, dass es für die EU eine sinnvolle Strategie ist, über eine Verschlechterung der Sozialstandards international Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Will man unsere hohen Einkommen erhalten, muss die Herstellung von hochwertigen Produkten mit hochwertigen Produktionsverfahren gefördert werden. Das wiederum ist nur möglich, wenn es hohe Sozialstandards gibt und die Menschen dadurch offen für Innovationen sind.

Der europäische Weg kann also nur der sein, auf positive Innovationen zu setzen, nicht aber auf Deregulierung und Verschlechterung von Sozialstandards.

derStandard.at: Die Lissabon-Strategie sieht allerdings in der Deregulierung eine wichtige Maßnahme, um Wachstum und Beschäftigung zu schaffen...

Marterbauer: In der Praxis hat sich die Annahme der EU-Kommission als falsch herausgestellt, durch reine Deregulierung eine bessere Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung erzielen zu können. Das zeigt erstens die ökonomische Realität, denn Europa ist weiterhin das Schlusslicht. Zum Zweiten hat die Deregulierungs- und Sozialabbaustimmung zu großer Verunsicherung der Menschen geführt. Diese äußert sich in Vorsichtsparen und Konsumschwäche, dem Hauptgrund für die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung.

Die Politik hat nicht berücksichtigt, dass man Projekte wie die Verwirklichung des Binnenmarktes immer mit positiven, expansiven Politikstrategien ergänzen muss. (Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques, Anm.) Delors hatte für ökonomische Zusammenhänge noch ein Gesprür und neben dem Binnenmarkt auf umfangreiche öffentliche Investitionen in die Transeuropäischen Netze gesetzt. Leider erkennt die jetzige Kommission diese Zusammenhänge nicht mehr.

derStandard.at: EU-Kommissar Vladimir Spidla hat im Oktober gesagt, er sei zuversichtlich, dass sie der Arbeitsmarkt dieses Jahr erholen werde. Ist sein Optimismus begründet?

Marterbauer: Die Erfahrungen der letzten Jahre geben dafür keinen Anlass. Es mag schon sein, dass die Arbeitslosigkeit im Moment leicht zurück geht, allerdings liegt sie nach wie vor auf einem Niveau, das katastrophal hoch ist - und ich kann nicht erkennen, dass die Beschäftigungspolitik in der EU den Stellenwert hätte, der wirklich zu Optimismus veranlassen würde.