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Mit der Dienstleistungsdirektive setzt die EU die Sozialstandards der Mitgliedsländer in Konkurrenz und begeht damit einen Systembruch, der zum Zusammenbruch der Union führen wird.

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Der "Sound of Europe" geriet bekanntlich zu einem musiktherapeutischen Bühnenstück mit tontechnischer Panne, just als das Volkes Stimme erschallen sollte. "Wir müssen den Bürgern zuhören", mahnte Ratsvorsitzender Schüssel wie von Einsicht getroffen. Tags darauf stellte Wirtschaftsminister beim Weltwirtschaftsforum in Davos unter Beweis, wie gut er zuhören kann: "Alle wollen die Dienstleistungsrichtlinie", behauptete er. Vielleicht sollte er am 14. Februar in Straßburg vorbeischauen, wenn sich dort im Vorfeld der vorentscheidenden Sitzung im EU-Parlament noch einmal die europäische Öffentlichkeit artikuliert, und genau hinhören, ob sie wirklich für oder nicht doch gegen die Dienstleistungsrichtlinie demonstriert.

José Manuel Barroso versicherte neulich im STANDARD: "Die Bürger Österreichs sollten verstehen, dass keine Entscheidung in Brüssel getroffen wird ohne ihre Zustimmung." Prima, dann können wir ja abstimmen. Fragt sich nur noch, ob 85, 90 oder 95 Prozent gegen das Liberalisierungsprojekt stimmen würden.

Negative Integration

Die Dienstleistungsrichtlinie kommt zum Zeitpunkt größtmöglicher politischer Unsensibilität: Europa steckt politisch in der Krise, weil die wirtschaftliche Integration nicht, wie versprochen, soziale Sicherheit und Wohlstand für alle gebracht hat, sondern auf eine Art und Weise betrieben wird, dass sie soziale Sicherheit und Demokratie zunehmend aushebelt.

Der Gemeinsame Markt könnte Sicherheit und Wohlstand für alle schaffen, wenn gleichzeitig die Arbeits-, Sozial- und Steuerstandards harmonisiert würden. Das wäre ein übergeordneter politischer Rahmen, innerhalb dessen die Unternehmen sich bewähren können: "positive Integration". Was wir hingegen in den letzten Jahren zunehmend erleben, ist negative Integration: Die Binnenmarktfreiheiten werden durchgesetzt: Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, der Rest hat Nachrang. Damit wird der Markt zum Regulativ, die Unternehmen setzen die Staaten zueinander in Konkurrenz um die günstigsten Steuertarife, Lohnnebenkosten, Infrastrukturangebote und Arbeitsstandards. Freihandel geht vor Gesundheitsvorsorge.

Dass der Markt der Boss sein soll und die Staaten bloß seine Assistenten, ist Kern neoliberaler Ideologie. Und der politischen Krise der EU. Was daher anstünde, ist die Wiederzurechtrückung dieser Verkehrung: Europäische Sozial-, Steuer-, Arbeitsrecht- und Umweltunion. Dann hätte vermutlich niemand etwas gegen einen Gemeinsamen Markt, auch nicht für Dienstleistungen: Er wäre Vehikel für mehr Wohlstand und soziale Sicherheit. Die unerhörte "vox populi" schreit geradezu nach dieser Korrektur.

Systembruch

Und was machen die politischen Eliten? Sie forcieren mit der umstrittenen Richtlinie einseitig die Dienstleistungsfreiheit und setzen mit der Einführung des Herkunftslandprinzips (das Prinzip ist auch nach der Einigung zwischen EVP und SPE aufrecht) - ein Systembruch in der Integration - die Umwelt-, KonsumentInnenschutz-, Qualitäts-, Ausbildungs-, Sicherheitsstandards zueinander in Konkurrenz. Auf diese Weise wird die Union früher oder später auseinander fallen.

Die größte Chuzpe ist das Argument mit den Arbeitsplätzen. Die EU-Kommission begründet die Notwendigkeit der Dienstleistungsrichtlinie damit, dass schon zwei Drittel der europäischen Wertschöpfung und Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor stattfinden. Das Problem: Dieser sei "überreguliert, verkrustet und archaisch". Die Richtlinie würde die dringend notwendige Dynamisierung und über mehr Wettbewerb höheres Wachstum und mehr Beschäftigung bringen (neoliberale Kennmelodie). Und jetzt aufgepasst: Die Dynamisierung von zwei Dritteln der europäischen Wirtschaft soll laut Kommission 600.000 Arbeitsplätze schaffen. Welch Jahrhundertwurf! Damit würde die Arbeitslosigkeit in der EU von aktuell 18,6 Millionen auf 18 Millionen Menschen zurückgehen, um ein Einunddreißigstel. Es bräuchte 30 weitere solcher Schlüsselprojekte, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Oder ist das alles nur Humbug? Sind Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung nicht doch der falsche Weg? Allein die Post-, Telekom- und Bahnliberalisierung hat in den alten Ländern 850.000 Arbeitsplätze vernichtet - mehr, als die Dienstleistungsrichtlinie laut Auftragsstudie je zu schaffen vermag.

Tristes Ergebnis, falsches Ziel

Der Neoliberalismus hat seine Chance erhalten - und fundamental versagt. In der Krise der EU läge die Chance, das Projekt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Zoll- und Währungsunion muss eine Sozial-und Steuerunion folgen. Arbeits-, Steuer-, Sozial- und Umweltstandards gehören auf hohem Niveau harmonisiert, das wäre echte Integration.

Das aktuelle Gegeneinander - wer unterbietet wen - entspricht dem Stil einer Ungemeinschaft. Die Konzerne lachen sich ins Fäustchen. Dass ihre Rekordgewinne nicht angetastet werden, ist der nächste Verrat an der europäischen Idee. Die Investitionen in der EU sind rückläufig, niemand kümmert sich um die Transformation der Profite in Arbeitsplätze.

Ein Weg dazu wäre, an die Stelle der Lissabon-Strategie und dem Dogma der globalen Wettbewerbsfähigkeit eine Strategie für nachhaltige Entwicklung zu setzen, mit einer Investitionsoffensive in die regionale Infrastruktur und der Stärkung ökologischer Wirtschaftskreisläufe. Das gegenwärtige Unionsziel, der "wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt" zu werden, hat die Realeinkommen sinken lassen, die öffentlichen Haushalte geleert und Armutsgefährdung und Arbeitslosigkeit ansteigen lassen.

Kooperation statt Konkurrenz

Doch nicht nur das Ergebnis ist trist, das Ziel ist falsch: Wäre Europa erster, dann würde es alle anderen Staaten und Regionen in diese missliche Position zwingen. Es darf aber nicht um "wir" gegen "die anderen" gehen, das ist ein betriebswirtschaftlich-nationalistischer Ansatz.

Ein Staat(enbund) ist kein Unternehmen. Unternehmen können konkurrieren, Staaten müssen kooperieren. Das wäre ein europäischer und globaler Geist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.2.2006)