Henning Mankell
Kennedys Hirn
Deutsch: Wolfgang Butt. € 25,60; 400 Seiten
Zsolnay, Wien 2006

Buchcover Zsolnay Verlag

Während wir uns sicher fühlen und unseren Träumen nachhängen, passiert anderswo schon das Unglück, das unser ganzes Leben durcheinander werfen wird.

Als die Archäologin Louise Cantor packt, um von ihrem Ausgrabungsort in Griechenland heim nach Schweden zu fliegen, verliert sie, ohne es zu ahnen, ihr einziges Kind. Angekommen, findet sie Henrik tot im Bett. Louise glaubt nicht an Selbstmord, auch dann nicht, als sich herausstellt, dass Henrik Aids hatte. Um Anhaltspunkte zu haben, sucht Louise den Vater ihres Sohnes, von dem sie sich vor vielen Jahren getrennt hat. Sie vermutet, dass der Exmann ihr unbekannte Details aus dem Leben des Sohnes weiß. Sie findet Aron in Australien, und sie beginnen, sich während der gemeinsamen Suche nach den Ursachen des rätselhaften Todes einander anzunähern. Doch da verschwindet auch Aron spurlos.

Louise folgt vagen Hinweisen und landet schließlich in Mosambik. Mankell baut Afrika erwartungsgemäß als Gegenwelt auf, die gewiss arm und korrupt ist, aber irgendwie immer noch als lichtes Gegenbild zur verkommenen weißen Welt herhalten muss. Dazu passt die paranoide Idee, das Aidsvirus sei in den Labors der Weißen manipuliert worden, damit man die Bevölkerung Afrikas dezimieren kann. Nun sind Verschwörungstheorien aller Art Dreh- und Angelpunkt der meisten Thriller. Wenn man aber wie Mankell, der in Maputo lebt, den Anspruch eines ernst zu nehmenden Realismus erhebt, dann verdirbt diese Holzhammerthese doch etwas das Anliegen des ganzen Unterfangens.

Die Vorstellung, dass böse Pharmakonzerne – denen man ja allerhand zutrauen kann – mitten im Busch ohne jede Infrastruktur Menschenversuche machen, ja Menschen entführen und bei lebendigem Leib zerstückeln, kann wohl nur als krude Metapher für die Ausbeutung des Schwarzen Kontinents durch die westliche Zivilisation gemeint sein. Malawi, Tansania, Südafrika als Geheimlabors für menschliche Versuchskaninchen? Nicht nur das ist für Louise neu. Sie ist in einer Welt angekommen, von der sie absolut nichts versteht, weder die Menschen noch ihre Lebensumstände noch, was ihr Sohn hier als barmherziger Samariter in einer Station für sterbende Aidskranke gewollt und was er hier entdeckt hat.

Louise stellt fest, dass sie ihren Sohn nicht wirklich gekannt hat. Und auch Henriks obsessive Suche nach dem Gehirn des ermordeten Präsidenten Kennedy ist nicht mehr als ein Symbol: "Wir leben in einer Welt, in der es wichtiger ist, Fakten zu verschleiern als zu enthüllen ...

Bald werde ich alle diese Dokumente über Kennedy und sein verfluchtes Hirn weglegen. Aber sie sind wie ein Handbuch für die Welt der Lüge – und damit die der Wahrheit." Es geht also um das Verborgene und die politische und wirtschaftliche Macht, die ihre wahren Interessen versteckt. Insofern ist der Kampf eines Einzelnen um die Wahrheit von vornherein ein verlorener, muss aber dennoch unternommen werden. So simpel die Botschaft, so anspruchsvoll die sprachliche Präsenz, mit der Mankell die Verzweiflung und die Verlorenheit Louises schildert: ein zwiespältiges Leseerlebnis. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 4./5.2.2006)