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Bei Wikipedia findet sich schon eine kontroversielle Auseinandersetzung mit dem koreanischen Wissenschaftler Hwang Woo-Suk - etablierte Enzyklopädien feiern ihn noch immer als Helden der Stammzellenforschung.

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Zuerst die Schwierigkeiten, die eine ernsthafte Sinnkrise auslösten: In einem Eintrag über den US-Journalisten John Seigenthaler, einem früheren Assistenten von Robert Kennedy, wurde eine Verbindung zu dessen Ermordung unterstellt. Ein fuchsteufelswilder Seigenthaler deckte den falschen Eintrag auf, ein Wikipedia-Kritiker betätigte sich als Detektiv und enthüllte den Autor, der Eintrag entpuppte sich als (schlechter) Scherz (und wurde korrigiert).

"Wissen der Massen"

Entlastung kam von einer Studie des angesehenen Wissenschaftsmagazins Nature, in der sich das "Wissen der Massen" gegen das Expertenwissen der Encyclopedia Britannica überraschend gut behaupten konnte. Bei 42 wissenschaftlichen Beiträgen gab es durchschnittlich vier Fehler pro Wikipedia-Artikel - und drei pro Britannica-Eintrag.

Geringe Unterschiede

Schaut man sich die Ergebnisse im Detail an, fallen die Unterschiede noch geringer aus: So differierten zwar zum Zeitpunkt der Studie die Geburtsdaten des südkoreanischen Genforschers Hwang Woo Suk bei Wikipedia und der Britannica. Aber während Wikipedia über den inzwischen aufgeflogenen Betrug Hwangs detailliert informiert, feiert die Britannica noch den Klonmeister. Die widersprüchlichen Geburtsdaten hat Wikipedia inzwischen in einer ausführlichen Fußnote (Unterschiede zwischen gregorianischem und koreanischem Kalender) erläutert.

Selbstkorrektur

Die Auseinandersetzung ist überaus lehr- und hilfreich. Erstens als Beleg für das Wiki-Konzept der ständigen Selbstkorrektur - der Seigenthaler-Eintrag, eigentlich eine Form von Internetvandalismus und kein Fehler, wurde ebenso prompt korrigiert wie der über Hwang, wo alle einem Betrüger aufgesessen sind.

Bis zum Beleg des Gegenteils

Ein zeitgemäßes Konzept von "Wahrheit": richtig bis zum Beleg des Gegenteils - so funktioniert auch Expertenwissen. Dass Seigenthalers Eintrag lange unbeanstandet blieb, hat wohl mit der Frequenz der Nachfrage zu tun; eine Änderung der Geburtsdaten Mozarts, die ich in diesem Augenblick vornehmen könnte, würde wahrscheinlich schon im nächsten Moment entdeckt und korrigiert werden.

Quelle

Zweitens ist es eine Erinnerung daran, dass Quellen immer anfällig für Irrtümer sind - siehe die Fehlerquote der Britannica. Die Internetverführung ist, dem erstbesten Suchergebnis zu trauen, um Arbeit zu sparen. Aber für verlässliche Informationen müssen wir Zeit und allenfalls Geld investieren (www.britannica.com 70 Dollar im Jahr, www.brockhaus.de 95,40 Euro). Der Vergleich sollte professionelle Wissensvermittler anspornen, denn drei versus vier Fehler scheint das Geld nicht wert zu sein.

Jeder kann schreiben

Drittens: Das schwierigste Problem ist die wechselseitige Kontrolle in einer Institution, in der jeder mitarbeiten kann. Wikipedia hat die Teilnahme etwas erschwert, aber im Prinzip kann weiterhin jeder mitschreiben (und auch stören), der will. Soziale Netzwerke (deren Teilnehmer einander kennen und sich kontrollieren) sind möglicherweise eine Lösung dafür - aber bis dahin ist noch ein weiter Weg.(Helmut Spudich, DER STANDARD, Printausgabe vom 7.1.2005)