Ein Kind, das gerne Gras kaut: Ralph Arlyck begibt sich in seinem Dokumentarfilm "Following Sean" auf die Suche nach dem Protagonisten seines Films von 1968.

Foto: Polyfilm
Ein faszinierendes Generationenporträt.


Wien - Schuhe findet er "creepy" und Erwachsene, die keine Schuhe tragen, auch. Der vierjährige Sean lümmelt auf einer Couch herum, seine nackten Füße unaufhörlich knetend, und lässt sich interviewen. Die Wochentage aufzuzählen beherrscht er noch nicht einwandfrei. Dafür raucht er gerne mal Gras, noch lieber kaut er es. Er weiß auch, welcher Körperteil für was zu gebrauchen ist. Überdies ist er überzeugt davon, dass die Welt ohne Polizei besser wäre.

Sean - so wie der Protagonist heißt der Kurzfilm, den Ralph Arlyck Ende der 60er-Jahre in Haight Ashbury, San Francisco, gedreht hat. Der Film, eine Studentenarbeit, wurde zum Festivalüberraschungserfolg und löste heftige Debatten aus. Der kleine Junge mit den unkonventionellen Sichtweisen geriet zum Symbol für das Amerika der Gegenwart - er wurde als Sohn der Hippie-Bewegung begriffen, die gerade auf ihren Höhepunkt zulief.

Following Sean, Arlycks neuer Dokumentarfilm, begibt sich rund 40 Jahre später auf eine Spurensuche. Den Regisseur selbst zog es 1966 an die Westküste nach San Francisco, wo er im Haus gegenüber von Charles Manson Quartier bezog. Er blieb ein leicht distanzierter Beobachter im Zentrum der Gegenkultur. Sein Eindruck war gemischt - "wie die Gegenwart immer ist". Er filmte, was er sah, und was ihm entging, recherchierte er nachträglich aus Archivmaterial. Aus diesen Bildern speist sich ein großer Teil des Films, den Arlyck mit einem persönlichen Off-Kommentar begleitet, der das Vergangene kritisch-nostalgisch würdigt.

Was aus dieser Zeit und, mehr noch, aus diesen Menschen geworden ist, darin liegt das zentrale Interesse von Following Sean. Von Anfang an zielt Arlyck dabei über Sean, dem freilich immer noch viel Raum zugestanden wird, hinaus. Die Politik liegt hier in vielen Biografien und familiären Zusammenhängen verborgen. Die Arbeit des Films besteht darin, im Besonderen das Allgemeine sichtbar zu machen. Die Unvorhersehbarkeit, von der der Filmemacher immer wieder spricht, erweist sich im Nachhinein als Prinzip, das es am Schneidetisch auszutricksen gilt.

Familienabgleich

Den Schlüssel zur Geschichte findet Arlyck in einer Art Familienaufstellung, die seine eigenen Angehörigen mit denen von Sean in Verbindung bringt. Daraus ergeben sich zwei Linien, die für die Veränderungen des linksliberalen Umfelds der USA charakteristisch sind. Die Vaterfiguren sind wichtig. Johnny, der Vater von Sean, stammt aus einer konservativen Bankiersfamilie, zu der er mit seiner bedingungslosen Hingabe für die Werte der Hippies auf Distanz rückte. Arlycks Vater repräsentiert dagegen den milden Patriarchen eines liberalen jüdischen Ostküstenclans. Gegen dessen Ordnung musste der Sohn nicht rebellieren.

Die Gegenwart macht erst deutlich, welches Modell Kontinuität versprach - auch in Hinsicht von Arbeitsbedingungen, die es zu überwinden galt. Johnny, einst Verfechter von freier Liebe, lebt heute allein ohne soziale Absicherungen. Sein Sohn Sean, nunmehr Elektriker, orientiert sich weniger an dessen utopischem Hedonismus als an den reformorientierten Vorstellungen seiner Großeltern, die Kommunisten waren und den Aufbruch der 68er mit Argwohn verfolgten.

Nicht nur in dieser Hinsicht fällt Arlycks Revision der Gegenkultur von '68 einigermaßen desillusioniert aus. Die Vergänglichkeit ist schon den merkbar entrückten Bildern der damaligen Zeit eingeschrieben. Es muss nachträglich nichts verurteilt werden: Following Sean misst den Anspruch von gestern bloß an den Verhältnissen von heute. Das genügt bereits, um zu sehen, dass die Errungenschaften bisweilen nicht viel mehr als schöne Erinnerungen sind.

Aus Sean, dem kleinen Jungen mit den nackten Füßen, ist ein Mann geworden, der viel arbeitet, um seine Familie zu ernähren. Vielleicht ist er mit seiner pragmatischen Haltung, die er heute den Erfordernissen des Lebens gegenüber einnimmt, ein Symbol geblieben, vielleicht aber auch nicht. Es ist nicht der geringste Verdienst dieser reichen Langzeitbeobachtung, dass sie sich an den Rhythmen des Lebens orientiert und dabei keine letzte Einsicht bereithält. (Dominik Kamalzadeh/ DER STANDARD, Printausgabe, 4.1.2006)