Das habe weder mit dem so genannten "Hype" zu tun, noch werde "die Trendsau über den Dorfplatz gejagt". Vielmehr formen sich in Kunst, Kommerz und Konsum Bilder, Chiffren und Wörter zu Mustern. Eine Vielzahl davon entsteht aus der Bedürfnislogik des Marketings heraus – sie seien Verkaufsargumente, nichts anderes. Kontextanalysen und die Tiefenexploration geben den Oberflächenphänomenen Halt. Zeitgerecht zum Jahreswechsel wirft das Zukunftsinstitut seinen nunmehr dritten "Trendreport" auf den Markt. Darin enthalten: zehn Stoßrichtungen für das Jahr 2006. Ehrlichkeit und Authentizität "Alle unsere alten und 'bewährten' Methoden wirken nicht mehr" sei, sagt Matthias Horx, jene Botschaft, die in der kollektiven Psyche angekommen ist. Neben der Illusion vom wiederkehrenden Wachstum, sei auch jene vom technischen Superfortschritt zusammengebrochen. "Langsam dämmert uns", sagt er, "dass Technik nicht mehr die selig machende Lösung ist, dass Innovationen sich nicht übers Knie brechen lassen, dass zu Technik auch immer eine Soziotechnik gehört." Das eigentliche Defizit unserer Kultur liege in den Softskills, sagt er. Die Phase der neuen Ehrlichkeit, wie Horx sie nennt, bringe nicht nur die Ernüchterung als neuen Kultstatus hervor, sie sei als Chance zu begreifen, unsere Potenziale wieder neu zu entdecken. Glanzvolle Momente zählen ebenso wie die weniger glanzvollen – das gelte im Management genauso wie etwa in der Corporate Identity. Am Beispiel der Pflegemarke "Dove" macht Horx eine Brand Democratisation fest: Schluss mit Schönheitsidealen, jeder darf teilhaben, keiner soll ausgeschlossen sein. Glaubwürdigkeit, die sich am Feld der Kundenwahrnehmung im Umsatzplus zeigen werde. --> Katastrophenerlebniskultur

Katastrophenerlebniskultur

Katastrophenangst wie Katastrophenlust seien Ergebnis einer globalisierten Mediengesellschaft. Die Natur als Rachegestalt biete im globalisierten Wirklichkeitsraum Boden für Phobien und Hysterien. Vorbei die Zeiten, da man Krankheiten oder Naturkatastrophen mit neuen Errungenschaften Herr werden konnte. Globale Ritual-Ereignisse wie das Papstbegräbnis bekämen – als Gegenreaktion – eine "magische Bedeutung der Angstbannung".

Folgende Faktoren führen – so Horx – zum "hysterischen Katastrophensyndrom":

Medien: Um die Aufmerksamkeit zu erhöhen, werde jede Gefahr überzeichnet, aus jedem Unglück eine Serie gemacht.

Apokalyptische Expertokratie: Jedes Unglück werde von einer Heerschar von Experten diskutiert – kein Desaster ohne hoch bezahlten Desaster-Professor.

Veränderte Weltlage: Ein entgrenzter und scheinbar wahlloser Terrorismus löst Angst- und Unsicherheitsgefühle aus.

Ende des Fortschrittsgefühls: Viele sehen keine Zukunft für die industrielle Zivilisation – eine "Zeit der Strafe" für unseren Wohlstand scheint angebrochen.

Höhenflug für Mikrounternehmer

Neben der traditionellen Arbeitswelt entwickle sich eine neue – und zwar genau daneben, als Gegenwelt gewissermaßen. Dort nämlich, wo andere Gesetze herrschen, sagt Horx, entwickle sich eine Berufswelt, die auf vielfältigen Erwerbsquellen beruhe und eine Bohemisierung wie radikale Individualisierung des Erwerbs zur Folge habe. Arbeit und Freizeit, Hobby und Beruf, Erwerb und Freiwilligkeit gehen ineinander über. Der Mikropreneur befinde sich im Höhenflug – die Vertreter:

Selbstpreneur: Kleine Einzelselbstständige, die das Hobby zum Beruf gemacht haben, kleine Läden eröffnen oder in Coaching- oder anderen Dienstleistungen ein eigenes Gewerbe einrichten.

Portfolio-Worker: Menschen mit bestimmten Talenten oder Schaffensspektren, die sie frei – ohne GmbH oder andere Organisationsform – am freien Markt anbieten.

Freeployees: Diese Vertreter haben – im gegenseitigen Einverständnis – auf ein oder zwei Jahre befristete Angestelltenverträge. Oft Quereinsteiger (Management, Verkauf, Kreation), fühlen sie sich als Selbstständige, scheinen in der Statistik aber als Angestellte auf.

--> Die Verjüngung der Alten

Die Verjüngung der Alten

Dass man so alt sei, wie man sich fühle, sei erst der Anfang, sagt Horx und zitiert die Wiener Altersforscher Sergei Scherbov und Warren C. Sanderson vom Institut für Demographie, die "Alter" mit der "Zukunftslebenserwartung" gleichsetzen. Ihre Formel: "Wir sind so jung, wie wir noch Lebensjahre vor uns haben!"

Die traditionellen Bilder des Alterns stimmen heute nicht mehr: Hatte 1970 ein 40-Jähriger 24 Jahre vor sich, sind es heute 42 Jahre. Probalistisches Lebensalter wird das genannt und begründet u. a. statistisch den Trend Downaging: Menschen altern zwar biologisch, werden aber seelisch, mental und körperlich jünger.

Es gibt zwei Wege des Alterns: Industrielles Altern ist stark von den klassischen Lebenszyklen der Industriegesellschaft geprägt. Nach dem Ausscheiden aus der Berufswelt zwischen 55 und 60 fallen viele in eine Art Passivität, häufig gefolgt von chronischen Krankheiten, Siechtum und Tod.

Proaktives Altern: Nach dem Ruhestand kommen neue Aktivitätsphasen mit – nicht nur Hobbys, sondern auch – neuen Herausforderungen von Weiterbildung bis zu neuer beruflicher Orientierung.

Die neue Frauengeneration

Horx nennt sie die Tiger-Ladys: jene Frauen, die ab 40 erst richtig durchstarten, ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und gelernt haben deutlich "Nein", aber auch "Ja" zu sagen und nicht zuletzt beruflich höchst erfolgreich sind.
Diese Frauen seien gebildet, finanziell unabhängig, erotisch erfahren, so Horx. Sie zelebrieren ihre Unabhängigkeit. Auf die Frage "Was ist für Sie besonders wichtig und erstrebenswert?" nannten im Zuge einer Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie 63 Prozent der "Mid-Age-Frauen" "Unabhängigkeit und Selbstbestimmung" vor "Kinder zu haben" (54 Prozent) und "Erfolg im Beruf" (50 Prozent). Als eine der Folgen halten auch neue Partnerschaftsmodelle Einzug:

Doublesingles: Man kenne und liebe einander, lebe aber nicht zusammen. Oft seien Kinder vorangegangener Partnerschaften in dieses Patchwork integriert.


Co-Living: Man lebe zusammen, sei aber überdurchschnittlich viel unterwegs – in anderen Ländern oder Wohnungen. Der Haushalt sei dabei aufs Minimum reduziert.

Polygamous Units: Zusammenleben mit dem besten Freund – alles werde geteilt, das Bett nicht.

--> Megaseller: Virtuelle Wirklichkeit

Megaseller: Virtuelle Wirklichkeit

Als "Kulturkiller" beschimpft, mit Verboten und Sanktionen belegt, seien sie längst zum Leitmedium geworden – zumindest bei den Jugendlichen. Computerspiele und die damit einhergehende Veränderung der Rezeption von Wirklichkeit sind sechster Megatrend der Horx'schen Zukunftsschau.

Total Gaming – nicht nur bei den Jungen, sondern zunehmend bei Erwachsenen: Horx sieht allerdings die Zukunft des Computerspiels nicht im Ballern, sondern in der Interaktivität in komplexen, vielschichtigen Simulationen.

Denn: Neuesten Erkenntnissen zufolge sollen Computerspiele intelligenzsteigernd wirken, auch wenn sie, pädagogisch gesehen, unintelligent seien. Vielmehr trainieren diese Spiele das Denken in Zusammenhängen, üben Multitasking ein. Wichtig sei dies in der Wissensökonomie.

Interessant sind auch die Marktaussichten: Mit Computer- und Videospielen werde weltweit mehr Geld umgesetzt als mit Kinofilmen. Rund 18,8 Mrd. Euro sollen dabei über den Ladentisch geschoben werden. Und: Der Gaming-Markt soll sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln.

Die Großeltern-Revolution

Selbst Mattel hat Barbie und Ken Großeltern geschenkt. Mittlerweile selbst zu Eltern geworden, wird das Plastik-Vorzeigepaar als Vertreter der Sandwich-Generation nun auch bei der Grätsche zwischen Beruf und Privat entlastet. Auf Fleisch und Blut umgelegt, komme den Baby-Boomern, den Nutznießern der ersten Bildungsreform in den 60er-Jahren, so Horx, damit eine maßgebliche Rolle u. a. in der Kinderbetreuung zu.

Die Opalution bahne den Weg wieder zurück zur Mehrgenerationenfamilie, so Horx. Aber nicht nur das. Ein neuer Generationenkontrakt könne wie folgt formuliert werden: "Alt stärkt Jung bei der Kindererziehung, Jung hilft Alt bei der Herausforderung des aktiven Alterns."

Auch finanziell seien nicht wenige Generationen-Transferleistungen – Inter-Vivos-Transfers – im Gange: Untersuchungen zufolge unterstützen elf Prozent der Großeltern ihre Kinder mit Einlagen in die Haushaltskasse, 25 Prozent greifen bei großen Anschaffungen unter die Arme, 27 Prozent übernehmen etwa die Geldanlage für die Enkel. Dieser Transfer sei auch "Beziehungskitt", so Horx.

--> Die Suche nach der neuen Männlichkeit

Die Suche nach der neuen Männlichkeit

Horx sagt, negativ-männliche Fähigkeiten seien wieder gefragt: Bestimmtheit, Konsequenz, Stehvermögen, Autorität und Stärke. Ausgehend von der Veränderung der Frauenrolle im gesellschaftlichen Gefüge, sei der Selfness-Mann auf der Suche nach seiner authentischen Maskulinität.

Von der Rolle des Ernährers verdrängt, fiel der Hype der Metrosexualität mittlerweile auch Richtung Nulllinie. Dabei sei der neue Mann schon längst da – kinderwagenschiebend oder zu 80 Prozent bei der Geburt des eigenen Kindes im Kreissaal anwesend. Auch seien entspannte Verhältnisse zwischen Mann und Frau im Familien-Arbeits-Kontext heute viel zahlreicher, sagt Horx. M-Ness spiele dabei eine zentrale Rolle.

Das neue Modewort bezeichne eine "Maskulinität, die das Beste traditioneller Männlichkeit (Stärke, Ehre, Charakter) mit Fähigkeiten kombiniert, die traditionellerweise mit Weiblichkeit assoziiert sind (Kooperation, Fürsorge, Kommunikativität)". Dafür bedarf es eines geschlechtsneutralen Lebensstils und hoher Lebensqualität, die aus elbstverständnis und Eigenstärke erwachse.

Schlüsselmarkt multiple Energie

Den Kondratieff'schen Zyklen zufolge, die sich in Wellen nach dem Gesetz der Knappheiten entwickeln sollen, werde am neuen Trend Smart Energy kein Weg vorbeiführen.

Folgende Schlüsselfaktoren machen, so Horx, die Energiefrage zum zentralen Wachstumssektor:

Starkes Wachstum in den Schwellenländern verknappe die fossilen Energiereserven schneller. Prognosen weisen für die nächsten 20 Jahre auf einen Anstieg des Primärenergieverbrauchs um 40 Prozent hin.

Ein neues Bewusstsein in Umweltbelangen erlebt ein Comeback.

Die Krisenanfälligkeit des heutigen Systems werde deutlicher. Andere Architekturen der Energieerzeugung werden entstehen.

Energiekonzerne springen auf den ökologischen Zug auf, bauen Offshore-Windanlagen oder investieren in Solarenergie.

Und die Zukunft halte weiteres im Talon: Über Brückentechnologien wie Wasserstoff- oder Brennzellen- Technologien führe der Weg in Richtung Genfuel – Bakterien, die Energieträger produzieren sollen. Auch bei der Sonnenenergie stehe man erst am Anfang.

Abschied vom letzten Tabu

Von Verdrängung des Todes könne, so Horx, überhaupt keine Rede mehr sein. Trotz Anti-Aging-Welle, trotz steigender Zahl an Schönheits-OPs – da sei mehr Klischee als Wahrheit dran. "Der andere Tod" liege im Trend.

Immer mehr rücke die Palliativ-Medizin oder die pflegenden Angehörigen in den Fokus der Aufmerksamkeiten – nicht zuletzt erwiesen sich TV-Soaps wie "Six feet under" oder Kinofilme wie "Il mar adentro" als wahre Kassenschlager im vergangenen Jahr.

Die Formen der Annäherungen seien jedenfalls weit verzweigt und zeigen zuweilen praktische bis seltsame Auswüchse. So auch im Bestattungswesen mit seinen Marktnischen fernab starrer Rituale. Von buddhistischen Elementen über die Dienstleistungen eines professionellen Trösters bis hin zum Öko-Faltsarg werde auf ziemlich alle Wünsche eingegangen. (Der Standard, Printausgabe 31.12.2005/1.1.2006)