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Der auch international mit Spannung erwartete Prozess gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk könnte unmittelbar nach seiner Eröffnung sofort wieder eingestellt werden. Wie der Verteidiger von Orhan Pamuk, Haluk Inanici, am Dienstag in Istanbul erklärte, hat das Gericht die Akten an das Justizministerium gesandt, weil der zuständige Richter der Auffassung ist, Pamuk müsste nach altem Recht und nicht nach dem erst im Juni neu in Kraft getretenen Strafgesetzbuch verurteilt werden.

Was sich zunächst wie ein Versuch ausnimmt, eine für Pamuk ungünstigere Rechtslage zu schaffen, ist tatsächlich wohl eine goldene Brücke für die Regierung, den Prozess doch noch abzubiegen. Nach altem Recht musste nämlich das Justizministerium der Eröffnung eines Prozesses wie dem, der nun Orhan Pamuk gemacht werden soll, zustimmen. Nach dem neuen Strafgesetzbuch hat das Justizministerium dieses Recht nicht mehr weil damit ja unter anderem die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt werden sollte.

Herabwürdigung

Nach Angaben des Verteidigers hat Justizminister Cemil Cicek es aber bislang abgelehnt, sich des Falles anzunehmen. Am kommenden Freitag soll Orhan Pamuk vor einem Gericht in Istanbul wegen "Herabwürdigung des Türkentums" angeklagt werden. Der Grund für diese Anklage ist eine Äußerung in einem Interview mit dem Zürcher Tagesanzeiger im Februar dieses Jahres, wo Pamuk davon gesprochen hatte, dass in der Türkei eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden wären.

Die EU hat die Türkei wegen des bevorstehenden Prozesses stark unter Druck gesetzt und mehrfach deutlich gemacht, dass Meinungsfreiheit zu den Kernbeständen der EU-Staaten gehört. Beobachter mutmaßen, dass der Prozessbeginn nicht zufällig zeitgleich mit dem EU-Gipfel in Brüssel angesetzt wurde. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14. 12. 2005)