Die heimische Visa-Affäre ist wesentlich aus zwei Fäden gestrickt: der Abschottung der Reichen von den Armen und der anscheinend nie enden wollenden Geldgier. In den Ländern, in denen an österreichischen Botschaften tausende Visa illegal ausgestellt worden sein sollen, ist die Kluft zwischen Reich und Arm so groß, wie der Grund des Mari^anen^grabens von der Spitze des Everest entfernt ist. Kein Wunder also, dass viele zumindest den Großglockner erreichen wollen. Doch Reisefreiheit ist mittlerweile weltweit ein Gut einer elitären Reisegruppe. Kriminelle Bergführer finden freilich immer eine Seilschaft, letztendlich ist es nur eine Frage des Geldes. Dass österreichische Konsularbeamte und Privatfirmen offenbar mit drinhängen, ist betrüblich und aufklärungsbedürftig aber keineswegs eine rot-weiß-rote Eigenart. Viele europäische Länder hatten in der Vergangenheit ihre Visa-Probleme. Auch wenn die politische Opposition das gern hätte: einem Vergleich mit der deutschen Visa-Affäre hält die heimische Causa aber nicht stand. Joschka Fischer hatte mit seiner Weisung, in Zweifelsfällen für eine Einreisegenehmigung zu entscheiden, ungewollt den Visumsmissbrauch erleichtert. Der damalige Außenminister der Grünen hatte die Rechnung ohne den kriminellen Wirt gemacht. Dem österreichischen Außenamt kann man hingegen nicht vorwerfen, es der Schlepper-Mafia generell leichter gemacht zu haben. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen gibt es einige Verdächtige, die sich bestechen haben lassen sollen. Korruption ist in jedem System möglich, das ist der Risikofaktor Mensch. Warum aber nun erst beim zweiten Anlauf alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um die Vorwürfe aufzuklären, ist ein klares Versäumnis. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2005)