Unentspannter Wille
Als Merkel um 10.55 Uhr das Plenum betrat, war der Wille zum entspannten Umgang von Union und SPD mit der neuen Allianz fast aufdringlich sichtbar. Die Kanzlerin steuerte zielsicher zuerst auf Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, dann auf den neuen SPD-Chef Matthias Platzeck zu, die beide ihre Hand einen Wimpernschlag länger hielten als nötig. Verständnisvoll lächelnd wandte sie sich dann an Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der erst drei Stunden zuvor von einem Nachtflug aus den USA wieder in Berlin eingetroffen war. Mit ihrem Vizekanzler Franz Müntefering plauderte sie vertraut, als Bundestagspräsident Norbert Lammert um 11.00 Uhr den Saal betrat.
Neues Reaktionsmuster
Die aufgekratzte Stimmung vor der mit Spannung erwarteten Regierungserklärung hielt noch an, als Lammert zu Sitzungsbeginn verkündete, dass der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) sein Mandat niedergelegt habe. "Schade!" feixten die Grünen über den Rückzug ihres Intimgegners.
Während Merkels Regierungserklärung verfestigte sich mit zunehmender Rededauer ein neues Reaktionsmuster im Plenum, das wenig Raum für Gelassenheit erlaubte: Merkel referierte eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, die Union führte einen kurzen Beifall an, der auf der SPD-Seite kaum über die ersten zwei Sitzreihen hinaus kam. Wenn sie ein Herzensthema der SPD ansprach, wie bessere Kinderbetreuung, war es umgekehrt.
Schwierige Sachfragen
Die Reaktion wird zum Ritual: "Wer hätte gedacht, dass Union und SPD so viele Gemeinsamkeiten entdecken?" fragte Merkel. Unions-Fraktionschef Volker Kauder hebt die Hände zum Applaus, reflexartig folgen ihm die Abgeordneten von CDU und CSU, mit kurzer Verzögerung fallen auch SPD-Fraktionschef Peter Struck und die erste SPD-Reihe ein. Bis sich die Hinterbänkler der SPD für oder gegen Applaus entschieden haben, ist er meist schon vorbei. Und weil Merkel weniger von Herzensthemen und mehr von schwierigen Sachfragen und Einschnitten spricht und die Rede nüchtern vorträgt, wird der Beifall immer seltener und dünner.
Nicht nur unter den Abgeordneten, unter denen der Murmelpegel stetig wuchs, sondern auch auf der Regierungsbank ließ die Konzentration nach, zumal die Rede mit 90 Minuten um die Hälfte länger war als angesetzt. In den ersten Minuten richteten die Minister den Blick konzentriert zur Seite auf das Rednerpult. Doch mit zunehmender Dauer ließ auch ihre Aufmerksamkeit nach. Müntefering ordnete weiße Zettel, Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) blätterte in Akten, und Wirtschaftsminister Michael Glos flüsterte mit Finanzminister Peer Steinbrück.
Zwischenrufe
Leben kam in die Rede nur durch die seltenen Zwischenrufe von der neuen, deutlich kleineren Opposition, die Merkel schlagfertig parierte. Als Ex-Verbraucherministerin Renate Künast über die europäische Zuckermarkt-Einigung moserte, konterte Merkel: "Ach, lassen Sie nur, Frau Künast. Sie merken, es geht auch ohne Sie." Oskar Lafontaine, Fraktionschef der Linkspartei, bekam auf seinen Zwischenruf zu hören: "Es ist schon dramatisch, welche Entwicklung sie genommen haben."