Bild nicht mehr verfügbar.

Sellafield (Bild) an der englischen Nordwestküste gehört zu den ältesten Nuklearanlagen der Welt. Umweltschützer beklagen die von dem Werk ausgehende Verschmutzung der Luft und der nahen Nordsee. Erst im heurigen Mai war ein Leck entdeckt worden, durch das monatelang 83.000 Liter radioaktive Flüssigkeit ausgetreten waren.

Foto: AP/Greenpeace
In drastischen Worten hat Tony Blair am Dienstag eine Kehrtwende in der Energiepolitik Großbritanniens angekündigt. Einst wollte sein Kabinett aus der Atomenergie aussteigen, jetzt peilt es den Bau neuer Kraftwerke an.

Vor Industriellen in London sprach Blair von einem "fieberhaften Umdenken", das im Gange sei, weil sich die Welt verändert habe. Zum einen stiegen die Preise für Öl und Gas, zum anderen sei die Versorgung mit diesen Rohstoffen bedroht.

Detailplan bis Sommer

Aufstrebende Nationen wie China und Indien verbrauchten deutlich mehr Energie, die Lage in der Krisenregion Nahost sei instabil, ergo müsse man über Gegenentwürfe zur bisherigen Politik nachdenken. Bis kommenden Sommer will Blair ein neues Konzept vorlegen.

Doch kaum jemand hat noch Zweifel, dass Blair die Weichen bereits gestellt hat und auf neue Atomreaktoren setzt. Die Rechnung, wie er sie jetzt machte, lässt nur diesen Schluss zu. Wenn – bis auf eine Ausnahme – sämtliche Atommeiler der Insel in den nächsten 20 Jahren vom Netz gehen und zudem einige veraltete Kohlekraftwerke schließen, fehlt nach Blairs Angaben rund ein Drittel der heutigen Energieproduktion. Windräder, Wellen- und Gezeitenkraftwerke, Sonnenenergie und andere alternative Quellen reichten nicht, um die Lücke zu schließen.

Aus der Rhetorik folgt, dass die Downing Street Blaupausen, die seit Langem in den Schubladen liegen, demnächst wohl umsetzen wird. Geplant ist der Bau von mindestens zehn neuen Atomanlagen, zumeist dort, wo heute bereits Meiler älterer Generationen stehen. "Der Deal ist längst perfekt, Blair hat entschieden, der Rest sind Feigenblätter", meint Norman Baker, umweltpolitischer Sprecher der oppositionellen Liberaldemokraten, die sich gegen die Abkehr vom Atomausstieg stemmen.

Terrorziele

In den Reihen der regierenden Labour Party sind über vierzig Rebellen bereit, ihrem Parteichef im Atomstreit die Stirn zu bieten. Ihr Wortführer, Ex-Umweltminister Michael Meacher, zählt die Risiken einer nuklearen Renaissance auf: Kernkraftwerke, warnt er, könnten leicht Terrorziele werden. Die Lawine radioaktiven Mülls wäre kaum zu beherrschen und käme den Steuerzahler teuer zu stehen. Schon jetzt koste es gut 80 Mrd. Euro, um die Abfälle, die sich in fünf Jahrzehnten Atomstrom anhäuften, fachgerecht zu entsorgen.

Die Umweltgruppe "Friends of the Earth" zeichnet ihrerseits ein alarmierendes Szenario: Da die meisten britischen Reaktoren an der Küste liegen, drohen sie überflutet zu werden, falls der Meeresspiegel in Folge der globalen Erwärmung steigt. Ursprünglich wollte das Königreich bis 2023 etappenweise aus der Atomkraft aussteigen, eine Absicht, mit der Labour 1997 ins Amt gezogen war. Nur die modernste der 16 Nuklearanlagen, der Druckwasserreaktor Sizewell B an der Nordsee, sollte noch länger, bis 2035, Strom liefern.

Sonderaufschlag

Während heute noch rund ein Fünftel der britischen Energie nuklear erzeugt wird, sollte sich die Kurve allmählich der Null nähern. Nun ist es allen voran Blairs wissenschaftlicher Chefberater, der die alten Pläne zur Makulatur erklärt. Sir David King schwebt vor, den Anteil des Atomstroms auf 30 bis 35 Prozent der Gesamtbilanz zu steigern – "das wäre optimal", schrieb er in einem vertraulichen Papier, das der Sunday Times zugespielt wurde.

Die roten Zahlen, die Großbritanniens Atombranche traditionell schreibt, soll nach Kings Vorstellungen der Verbraucher ausgleichen. Demnach sollen die Kunden künftig stärker zur Kasse gebeten werden – durch einen Sonderaufschlag auf die Stromsteuer. (Frank Herrmann aus London, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.11.2005)