Paris/Wien - Vor drei Wochen, zum Höhepunkt der Vorstadtkrawalle, trat der französische Innenminister Nicolas Sarkozy vor die Presse und erboste sich über verharmlosende Sprachgepflogenheiten in den Banlieues. Er könne es nicht gutheißen, meinte Sarkozy, wenn Gauner "Jugendliche" geheißen würden oder Vergewaltigungen "tournantes".

Dieser Begriff, der Assoziationen des Herumreichens und Herumdrehens ("tourner") hervorruft, ist in seiner sexuellen Bedeutung erst seit einigen Jahren im französischen Sprachschatz. Er meint eine Spielart sexueller Gewalt, bei der ein weibliches Opfer durch mehrere männliche Täter vergewaltigt wird. Und: In den Jahren 2000 bis 2002 scheint es, vielen empörten Medienberichten nach zu urteilen, zu einer signifikanten Zunahme solcher Verbrechen in den Banlieues gekommen zu sein.

Jedenfalls häuften sich in diesem Zeitraum einschlägige Meldungen, wobei ein Buch einer Betroffenen, der inzwischen verstorbenen Samira Bellil, die öffentliche Debatte noch heftig anheizte. Nun hat der Soziologe Laurent Mucchielli ein Buch ("Le scandale des ,tournantes'", Edition La Découverte) vorgelegt, das sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinander setzt und analysiert, inwieweit die mediale Berichterstattung eine Entsprechung in der "wirklichen" Welt der Polizeiverhöre und Gerichtsstatistiken hat.

Mucchiellis Befund ist klar: Massenvergewaltigungen hat es - in einer verglichen mit anderen Sexualstraftaten sehr geringen Häufigkeit - in Frankreichs Geschichte immer gegeben. Wenn sie aber von 2000 bis 2002 mit einem Mal Furore machten, so lässt sich nicht ein einziger empirischer Beleg dafür finden, der die Annahme einer spektakulären Zunahme solcher Verbrechen erhärten würde. Warum aber dann das Medientamtam? Mucchielli vermutet, dass das Thema während der Kommunal-, Präsidentschafts-und Parlamentswahlen, die in diesem Zeitraum stattfanden, im Zuge einer "Sicherheitsdebatte" politisch instrumentalisiert wurde, teils dass es sich wie ein Ansteckungsphänomen ausbreitete.

Muchielli macht für die "extrem intensive, abrupte und vereinfachende" Debatte, in die häufig Ressentiments über Franzosen arabischer oder schwarzafrikanischer Herkunft einflossen, auch eine akute Ressourcenknappheit bei den Medien mitverantwortlich, die dazu geführt habe, dass "wie bei Politikern auch bei Journalisten Indignation immer öfter anstelle der Analyse und Emotion an die der Reflexion tritt". Profiteur der Sicherheitshysterie war 2002 übrigens, wie zu vermuten, die extreme Rechte. Zur Erinnerung: Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen hängte der Rechtsradikale Jean-Marie Le Pen den Sozialisten Lionel Jospin glatt ab. (Christoph Winder, DER STANDARD, Print, 29.11.2005)