Printausgabe
Turin, die edle, alte Dame am Po ist zu neuem Leben erwacht. Für die Olympischen Winterspiele 2006 hat sich die Stadt einem Lifting unterzogen, ohne ihre aristokratische Eleganz und traditionelle Gemütlichkeit zu tradieren. Geist, Genuss und Gaumenfreuden bleiben die Trümpfe der Stadt, zu der nun Sport und Spektakel hinzukommen.

"Turin! Lieber Freund, seien Sie beglückwünscht! Sie raten mir nach dem Herzen! Das ist wirklich die Stadt, die ich jetzt brauchen kann. Der erste Ort, an dem ich möglich bin", frohlockte Friedrich Nietzsche am 7. April 1888 in einem Brief an seinen Freund Peter Gast. Der Philosoph war ja bekanntlich ein schwer zufrieden stellender Nörgler, der an jedem Ort etwas auszusetzen hatte, nur an Turin nicht.

Die Stadt ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, aus der ältlichen Jungfer am Po ist eine rasante, junge Dame geworden. Mit 3,6 Milliarden Euro war es zwar kein billiges, dafür aber wirkungsvolles Restyling. Zum Einstieg in die Stadt lohnt ein Überblick, und den bietet vorzüglich die Mole Antonelliana, das Wahrzeichen der Stadt. 1863 von Alessandro Antonelli als Synagoge errichtet, beherbergt die Mole heute ein bedeutendes Filmmuseum. Zum runden Aussichtspunkt auf halber Höhe, dem "Tempietto", fährt den Besucher ein gläserner Aufzug empor. Die Stadt liegt ihm zu Füßen, und mit einem Blick erkennt er: In Turin ist die Ordnung Herr im Haus. Es ist eine Reißbrettstadt. Die Straßen sind wie mit dem Lineal gezogen, sie verlaufen schnurgerade, treffen im rechten Winkel aufeinander. Derweil stört das harmonische Bild noch der ein oder andere riesige Bauplatz, doch diese klaffenden Wunden sollen spätestens bis zum Stichtag, 10. Februar 2006, der offiziellen Eröffnung der Spiele, geschlossen sein.

Ins Schlittern kommen

Das ehemalige Fiat-Haus ist die Ikone der Verwandlung der Stadt, bereits vor zehn Jahren begann die Umstrukturierung der Fabrik in ein modernes Kommunikations- , Messe und Freizeitzentrum. Auf seinem Dach schwebt die gläserne Kongresskugel, "la bolla", von Renzo Piano entworfen, gegenüber "lo scrigno", der Schrein, den der Stararchitekt eigens für die private Kunstsammlung des verstorbenen Fiat-Chefs Agnelli erbaute. Hier, auf dem Dach und über die Rampen werden im Februar die Eisläufer flitzen.

Das Herz von Turin ist die Piazza Castello: Der königliche Palast, einst Residenz der Könige der Savoyer, wurde im 17. Jahrhundert von Castellamonte errichtet und gilt mit seinen freskierten, prachtvollen Hallen und seiner Gemäldegalerie als eines der bedeutendsten Königshäuser Europas. Der Dom, ein Meisterwerk der Architekten Guarino Guarini und Filippo Juvarra Turin, birgt den heiligen "Schatz" der Stadt: La Sindone, das leinene Grabtuch, in das Nikodemus und Joseph von Arimathia angeblich den Körper des Heilands wickelten. Die Spuren der Wunden des Gekreuzigten sind noch deutlich sichtbar, und bis heute ist es der Wissenschaft nicht gelungen, das Mysterium zu klären.

Überhaupt umgibt die Stadt ein Hauch von Mythos und Magie: So steht jenseits der schillernden Fluten des Po auf dem Kapuzinerberg vor der Kirche Gran Madre di Dio, von den Savoyern 1814 zum Zeichen ihrer Rückkehr errichtet, die steinerne Figur der Göttin Isis und hebt den Kelch. Die Legende will hier den Ort wissen, an dem der Heilige Gral verborgen liegt.

Doch vernachlässigt Turin auch die Sinneslust nicht: Zwischen Fresken und auf alten Möbeln ließ es sich bereits Ernest Hemingway im "San Giorgio" schmecken, und noch heute ist die Locanda eines der besten und exklusivsten Restaurants der Stadt. Hier lässt die Stadt nur bedingtes - formales - Restyling zu, bei den Zutaten und Rezepten ist sie zutiefst der Tradition verbunden und kontrastiert bewusst Fastfood-Moden mit einem Slowfood-Programm, das alle zwei Jahre im Salone del Gusto zelebriert wird.

Als Geheimtipp gilt die ausgefallene Küche im Kunstschloss Rivoli: Das Schloss gehört heute eigentlich zu einem der bedeutendsten Häuser der zeitgenössischen Kunst. Auch in diesem Bereich macht sich der Wille der alten Dame am Po, zur dynamischen Lady zu werden, bemerkbar: Für die Zeit der Spiele ist ein wahrer Kulturmarathon geplant. (Der Standard, Printausgabe 26./27.11.2005)