Vor zehn Jahren habe ich die direkte TV-Übertragung aus dem Luftwaffenstützpunkt Dayton im US-Bundestaat Ohio über die Unterzeichnung jenes Abkommens kommentiert, die einen dreieinhalb Jahre dauernden Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet hatte. Die Gesichter und die Körpersprache der drei Hauptkontrahenten nach drei Wochen des erbitterten Ringens unter der Aufsicht Präsident Clintons und von dessen Chefbeauftragtem, UN-Botschafter Richard Holbrooke, waren aus unzähligen TV-Reportagen sattsam bekannt. Der Serbenführer Slobodan Milosevic, heute im Gefängnis in Den Haag, erzwang die Aufspaltung des Staates in zwei ethnisch bestimmte Teilstaaten: in die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Serbische Republik (Republika Srpska), wenn auch der serbische Anteil des Gesamtterritoriums nur 49 statt der auf dem Höhepunkt der Offensive eroberten 70 Prozent betrug. Der vom großserbischen Hegemoniestreben in Gestalt von Milosevic und seinen Handlangern entfesselte Krieg kostete 200.000 Menschen das Leben. Zwei Millionen Flüchtlinge und eine zu 90 % zerstörte Infrastruktur waren die Folge einer sinnlosen gewaltsamen Konfrontation, die zweifellos zu den düstersten Kapiteln der Balkangeschichte zählt.

Es ging weder in Dayton, noch in den seither vergangenen zehn Jahren um Gerechtigkeit, sondern um die Beendigung des Blutvergießens bzw. der Instabilität durch die internationale Staatengemeinschaft.

Man muss die Bilanz von Dayton und die Aussichten für die Zukunft nüchtern einschätzen. Der ehemalige schwedische Ministerpräsident und erste vom Friedensimplementierungsrat eingesetzte Hohe Repräsentant in Bosnien (1996-97), Carl Bildt, sieht heute die Dinge eher positiv. Die Erfolge seien offensichtlich: Mehr als eine Million Flüchtlinge kehrten zurück, die interethnischen Grenzen seien kaum wahrzunehmen. Im Gegensatz zum Kosovo erlebten die vielgeprüften Einwohner Bosniens seit Dayton keine blutigen Gewalttaten. Die Zahl der internationalen Soldaten wurde im Laufe der Zeit von 60.000 auf 6.000 abgebaut. Doch ist dieser Staat Bosnien-Herzegowina in seiner gegenwärtigen Form eine Totgeburt. Ein Gesamtstaat (mit einem ethnisch gegliederten dreiköpfigen Präsidium), bestehend aus zwei Teilstaaten und zehn Kantonen mit 160 Ministern samt entsprechender Bürokratie ist unregierbar. Die Kosten dieses enormen Apparates verschlingen über zwei Drittel der Staatseinnahmen. Die Schattenwirtschaft blüht. Die Wirtschaftsleistung liegt noch immer unter dem Vorkriegsniveau. Zwei Milliarden Dollar Auslandshilfe sollen einfach verschwunden sein. Die politischen Parteien bleiben nationale Interessenvertretungen und pochen auf ihre verbrieften Vetorechte im gesamtstaatlichen Parlament. Der Hohe Repräsentant ist de facto ein Statthalter, der Politiker absetzen und am Parlament vorbei Gesetze erlassen darf.

Die Frage bleibt offen, ob eine Zentralregierung mit echten Kompetenzen überhaupt ermöglicht werden könnte. Es fehlt fast allen Politikern der Mut, dem Dienst am bosnischen Staat und nicht an ihrer eigenen Volksgruppe den Vorrang zu geben.

Es ist also eine Illusion zu glauben, dass Bosnien-Herzegowina - ein Staat, in dem Korruption und organisierte Kriminalität blühen, in dem die schwerer Kriegsverbrechen angeklagten Milosevic-Helfer Radovan Karadzic und General Ratko Mladic absoluten Schutz genießen - den Weg zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union überhaupt gehen kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.11.2005)