STANDARD: Herr Prof. Sigusch, was ist ein Asexueller?

Volkmar Sigusch: Es gibt keine verbindliche Definition. Bisher ist Asexualität keine klinische Angelegenheit, sie wird nicht als Störung oder Krankheit geführt. Die Medizin hat die Asexualität Gott sei Dank noch nicht in ihren Kanon aufgenommen.

 

STANDARD: Kann man Menschen als asexuell bezeichnen, die kein sexuelles Empfinden haben?

Sigusch: Das wäre zu einfach. Es gibt tausend Möglichkeiten, warum sich jemand real asexuell verhält. Es fallen Menschen darunter, die sich nur selbst befriedigen, die perverse Wünsche haben, die sich nicht realisieren lassen, die Angst vor diesen Wünschen haben und sie verleugnen usw.

STANDARD: Warum war Asexualität bisher kein Thema für die Medizin?

Sigusch: Wenn die Medien so weitermachen, dann wird das in den medizinischen Kanon aufgenommen werden. Das befürchte ich zumindest.

STANDARD: Warum befürchten Sie das?

Sigusch: Ich bin dafür, dass man möglichst vieles, was sich sexuell manifestiert, aus den Katalogen der Pathologisierung heraushält. Ich erzähle nur ein Beispiel: Albert Eulenburg, ein großer Arzt und Sexualforscher, der die Medizin-Enzyklopädie seiner Zeit zu verantworten hatte, schrieb vor hundert Jahren, dass der Mann die Fellatio nicht aushält: Er würde dadurch impotent werden. Freud beschrieb Oralverkehr auch als pervers. Solche Pathologisierungen verursachen nur Schäden. Deswegen sage ich: Hände weg von den Asexuellen.

STANDARD: Die Fellatio setzte sich trotzdem als normale Sexualpraktik durch.

Sigusch: Aber das hat lange gedauert. Bis in die 50er-Jahre vertrat man etwa die Ansicht, dass das "Weib" gar keinen Orgasmus haben kann. Masturbierte eine Frau, wurden die Klitoris oder die kleinen Schamlippen beschnitten. Solche Ansichten mussten erst mühsam niedergerungen werden.

STANDARD: Asexualität ist derzeit aber ein großes Thema. Auch Interessenvertretungen gibt es bereits.

Sigusch: Im "Journal of Sex Research", später im "New Scientist" gab es Artikel zum Thema, daraufhin haben sich die Medien darauf gestürzt. Es ist weniger ein Thema der Fachwissenschaft.

STANDARD: Wird zu viel Aufsehen gemacht? Amerikanische Wissenschafter nannten aber die Zahl von einem Prozent Asexueller in unserer Gesellschaft.

Sigusch: Ich bestreite, dass es so viele sind. Die Studie, die Sie zitieren, wurde im Umkreis der Aids-Prävention durchgeführt. Hier wurden Menschen als asexuell bezeichnet, die im letzten Jahr keinen Geschlechtsverkehr hatten. Eine solche Position verzerrt das Ergebnis sehr.

STANDARD: Kann man das Phänomen Asexualität als eine Gegenreaktion auf die Sexualisierung unserer Gesellschaft verstehen?

Sigusch: Ich denke, ja. Ich empfinde es als "gesunde" Reaktion auf die totale Durchdringung unserer Gesellschaft mit Sex. Verwunderlich ist nur, dass diese Entwicklung nicht bereits früher eingetreten ist.

STANDARD: Wann sind Sie in Ihrer Laufbahn als Sexualwissenschafter mit Asexuellen konfrontiert worden?

Sigusch: Sehr oft mit dem Phänomen der Lustlosigkeit. In unseren Ambulanzen beschäftigen wir uns seit 15 Jahren damit. Auch bei jungen Männern, die körperlich vollkommen gesund sind. Bei Frauen ist Lustlosigkeit oft keine Störung, sondern das Resultat, wenn sich die Geschlechter nicht verständigen können über ihre Wünsche.

STANDARD: Deckt sich das, was Sie als Lustlosigkeit beschreiben, mit dem Phänomen der Asexualität?

Sigusch: Hier muss man aufpassen. Resultiert Lustlosigkeit aus einer Unvereinbarkeit zweier Menschen oder Geschlechter, dann würde ich das nicht als Asexualiät bezeichnen.

STANDARD: Wann sollte man Hilfe suchen?

Sigusch: Wenn jemand das Bedürfnis hat. Ich hatte den Fall, dass ein junger, gesunder Mann keinerlei sexuelle Reaktion zeigte. Wir maßen sogar die nächtlichen Schwellungen am Penis, die fehlten. Das ist der äußerste Punkt an Asexualität. Doch auch in dem Fall kommt es auf den Betroffenen an, ob das ein Problem ist oder nicht.

STANDARD: In dieser Studie gab es eine größere Zahl an Frauen, die asexuell sind, als an Männern. Warum ist das so?

Sigusch: Weil es einen Nachhang gibt aus einer Zeit, als Frauen als Genus desexualisiert worden sind. Von den Theologen über die Philosophen bis hin zu den Medizinern vertrat man bis in die 1930er-Jahre die Ansicht, dass Frauen gar keine Lust empfinden können. Dieses Konstrukt und Vorurteil wurde erst in den vergangenen fünfzig Jahren mühsam abgebaut.

STANDARD: Für viele wird Asexualität im Alter zum Problem.

Sigusch: Ich empfinde es nicht schön an unserer Kultur, dass alte Menschen all das haben wollen, was auch die jungen haben. Es gibt eine sexuelle Rückläufigkeit, was die Frequenz als auch die Ausdauer anbelangt. Ich rate niemandem zu einer technologischen Anheizung.

STANDARD: In einem Artikel fragten Sie sich kürzlich, ob sich das sexuelle Zeitalter derzeit genauso zu Ende neigt wie das soziale. Das ist eine gewagte These.

Sigusch: Die Sexualität ist sehr banal geworden, das sexuelle Zeitalter, das vor 200 Jahren begann, ist an einem Höhepunkt angekommen. Ich denke, die Ekstase könnte bald nicht mehr im Sex, sondern in der Gewalt gefunden werden.

STANDARD: Sind Asexuelle Vorboten dieser Entwicklung?

Sigusch: Sie sind ein Anzeichen für das Ende des sexuellen Zeitalters, aber Asexuelle haben nichts mit Gewalt zu tun. Das muss man strikt trennen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19./20. 11. 2005)